Allein unter Büchern

Jede Bibliothek, jede Bücherei ist etwas Besonderes. Allein die Vorstellung, dass es da einen Hort von Büchern gibt, Geschichten, Geheimnissen, Wissen, und nur darauf wartet, entdeckt zu werden … Ich habe nie aufgehört, Bibliotheken zu lieben. Natürlich freue ich mich über jeden, der sich eines meiner Bücher kauft, weil ich damit meinen Lebensunterhalt verdiene – aber ich freue genauso über jeden, der/die meine Bücher in einer Bücherei ausleiht. Ich wäre geistig verhungert, hätte ich damals meine Stadtbücherei nicht gehabt, und hätte meinen Durst nach Geschichten ohne Beschaffungskriminalität ohne nicht stillen können.

Büchereien sind wichtig und kostbar. Und auch wenn ich, trotz wahrer Leidenschaft im Studium, nie über Praktika hinaus in einer öffentlichen Bibliothek gearbeitet habe – nur dreieinhalb Jahre in einer Unibibliothek, und das hatte sehr wenig mit Büchern zu tun – werde ich nie aufhören, in meinem Herzen Bibliothekarin zu sein. Um so mehr hat mich die Chance gefreut, im Rahmen meines gewonnenen PAN-Stipendiums zwei Wochen als Gast in einer Bücherei zu wohnen, die noch mal eine Ecke besonderer ist als andere: Der Phantastischen Bibliothek in Wetzlar.

Ich war noch nie vorher dort, auch wenn Wetzlar von Köln, wo ich studiert und lange gelebt habe, gar nicht so weit weg ist. Im Studium habe ich zum ersten Mal von ihr gehört, und schon da klang sie wie das Paradies auf Erden: Eine Bibliothek, die nicht stirnrunzelnd oder mild amüsiert auf diesen trivialen Bereich der Unterhaltungsliteratur hinunterblickt, sondern diese Bücher ganz ernsthaft betrachtet und sie in den Mittelpunkt stellt. Ich will Bibliotheken kein Unrecht tun, ich kenne keine, in der Fantasy und Science Fiction nicht ihren Platz hätten – aber schon von vielen Kommilitonen im Studium, auch von ausgewachsenen Bibliothekarinnen bin ich sehr belächelt worden für meine Liebe zu diesem Genre, das man bereithält, weil es gelesen wird, aber selbst nur aus beruflichen Gründen anrührt. Nicht so in Wetzlar. Hier ist man als Phantast nicht Außenseiter, sondern zuhause.

Fantasy-Abteilung
Nur ein kleiner Bruchteil der Fantasy-Sammlung

Seit ihrer Gründung 1987 ist die Phantastische Bibliothek schon zweimal aus ihrem Gebäude herausgewachsen und befindet sich heute im ehemaligen Bauamt, einer ehrwürdigen Villa, und auch die ist schon beinahe wieder zu klein: Gut 300.000 Bücher und andere Darreichungsformen (oder, wie wir Bibliothekare sagen, Medieneinheiten) hat die Bibliothek, und alles aus den verschiedenen Bereichen der Phantastik – Fantasy, Science Fiction, Märchen, Dystopien, Utopien, Romantasy, Engel, Vampire, etc – damit ist sie die weltweit größte Spezialbibliothek für phantastische Literatur. Und sie ist allemal einen Besuch wert.

Finanziert wird die Bibliothek durch eine Stiftung, die Bücher kommen überwiegend als Spenden rein: Und sie tut ihr Bestes, zumindest die im deutschsprachigen Bereich erschienene phantastische Literatur möglichst komplett abzudecken. Viele Verlage machen mit, doch nicht alle, daher an alle Autor:innen, die das hier lesen: Wenn ihr eure Belegexmeplare vom Verlag bekommt und nicht wisst, wohin mit so vielen Büchern: Fragt bei der Phantastischen Bibliothek an, ob sie euer Buch schon über den Verlag bekommen haben oder es dort noch fehlt, und dann spendet zwei von euren Belegexemplaren für die gute Sache. Denn eine gute Sache ist diese Bücherei, die sich mit ihrem Bestand und ihrer Forschung so sehr um die deutschsprachige Phantastik verdient gemacht hat wie keine andere, allemal.

Nachdem ich erfahren habe, dass ich tatsächlich das Stipendium gewonnen habe, war es eine meiner ersten Aktionen, mich bei der Phantastischen Bibliothek zu melden. Ich wusste zwar nicht, wie ich mir das vorstellen sollte, Residenz in einer Bibliothek, aber allein die Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen. Auch, wenn ich noch nie eine Bibliothek mit eigener Gästeunterkunft erlebt hatte: Die Stadtbücherei, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, war damals in einem ehemaligen Geschäfts- und Wohnhaus untergebracht und hatte in einem der Büros noch eine Badewanne, und es gibt nichts, das ich mir nicht vorstellen kann. Warum also kein Gästezimmer? Am besten von Büchereiregalen umgeben … Man wird ja noch träumen dürfen … Und nachdem meine Stipendiumskolleginnen, die sich das natürlich ebenfalls nicht entgehen lassen wollten, bereits im Herbst hier waren, bin jetzt also auch ich in der Bibliothek aufgeschlagen und berichtet hier also life und in Farbe aus dem Herz der Phantastik.

Am letzten Samstag bin ich angereist, da war die Bibliothek noch geschlossen – wegen der aktuellen Covid-Welle hatte sie für drei Wochen ihre Tore geschlossen, das Kollegium forschte in Heimarbeit, und die Leserschaft hatte sich mit ausreichend Lektüre eingedeckt [Korrektur 17.01: Es waren Weihnachtsferien, die Bibliothek ist auch in anderen Jahren um diese Zeit geschlossen]. Ursprünglich hatte ich die Bahn nehmen wollen, Wetzlar ist für mich tatsächlich mit nur einmal Umsteigen zu erreichen, aber da ich weiß, wie voll diese Regionalbahn üblicherweise ist, vor allem am Wochenende, erschien mir die Ansteckungsgefahr zu groß, und mein lieber Mann hat mich mit dem Auto hingebracht, so dass wir zumindest noch ein bisschen Zeit miteinander verbringen konnten, bevor sich unsere Wege trennten.

Perry Rhodan-Sitzecke
Zu viele Bücher? Bau Möbel draus!

Vorher bekamen wir aber beide von Klaudia Seibel, die in der Bibliothek das Future Life-Projekt betreut, noch eine Führung durch die Bücherei, und … wow! Ich meine, ich war ja schon in der einen oder anderen Bibliothek, habe jahrelang als Schülerin in der Stadtbücherei gejobbt und später in Praktika auch andere Büchereien hinter den Kulissen kennengelernt, und das eine oder andere Buch haben wir ja auch selbst zuhause, aber das hier, das ist etwas wirklich ganz Besonderes. So viele phantastische Bücher, so liebevoll gestaltete Sitzecken, so viele Einladungen, sich einfach ein Buch aus dem Regal zu ziehen und zu schmökern. Regale über Regale voller Bücher, eine ganze Sitzecke aus vom Verlag gespendeten Perry-Rhodan-Restbeständen gebaut, fliegende Drachen, ein Märchenthron …

Diese Bibliothek nimmt die Fantasy nicht nur ernst, sie zelebriert sie regelrecht, und sie nimmt auch ihre Leser ernst. Das ist kein abgehobener Elfenbeinturm, wo Forscher sitzen und Bücher analysieren, die Bücherei steht auch allen Interessierten, vor allem natürlich aus der Gegend, offen, um zu lesen, um Bücher auszuleihen wie in jeder »normalen« Bücherei. Für die finden auch regelmäßig (außer gerade, wegen Covid) Führungen statt, und es gibt eine großartige Schnitzeljagd, für die man sich quer durch den gesamten Bestand arbeiten muss und an en Regalen angebrachte literarische Rätselfragen finden, die dann das Lösungswort ergeben. Sowas liebe ich ja! Die Fragen sind zum Teil echt knifflig, aber noch mehr wurmt mich, dass ich einfach noch nicht alle gefunden habe. Gut, dass ich noch ein paar Tage lang hier bin …

Coronadingt ist die Bibliothek zur Zeit nur an vier Tagen die Woche nachmittags geöffnet, das Kollegium ist auch vormittags da, und ich – ich bin die ganze Zeit über hier. Auch wochenends. Auch Sonntags. Und so verbrachte ich die erste Nacht im Gästezimmer unten im Tiefparterre, in einem eher spärlich eingerichteten Zimmer mit echt bequemen Betten, allein, schreckte bei jedem Geräusch hoch, jedem Knacken im Gebälk, in den Heizungsrohren, und gruselte mich.

Allein in einer dunklen, leeren Bibliothek – das ist mal eine Nummer. Aber ich lernte schnell, mich zurechtzufinden. Nach der ersten Nacht habe ich mich keinmal mehr gegruselt, ich lernte, wo die Lichtschalter versteckt sind, auch wenn man dafür hinter Regalen herumtasten muss, ich lernte den Weg zur Küche, der mich quer durch die Abteilung Phantastik führt, und hinunter in die Märchenabteilung, wo ich einen besonders gemütlichen Sessel zum Arbeiten fand. Denn dafür bin ich hier: zum Arbeiten. Und das nicht als Bibliothekarin, auch wenn es mich wirklich unter den Fingern juckt, einfach mitanzupacken und Bibliothekarin zu spielen, wie in der guten alten Zeit – aber ich habe diesen Aufenthalt über das Stipendium gewonnen, und in dem Stipendium geht es darum, dass ich an meiner »Neunten Träne« schreibe.

Phantastische Bibliothek im Dunkeln
Allein in einer dunklen Bibliothek …

Und meine Tränen … Die machen mich gerade nicht ganz so glücklich wie all die Bücher, die mich hier umgeben. Seit ich meinen Nanowrimo an dem Projekt geschrieben habe, bin ich damit auf keinen grünen Zweig mehr gekommen. Unzufrieden mit dem Geschriebenen wie lange nicht mehr mit irgendwas, habe ich drei an und für sich fertige Kapitel aussortiert und beschlossen, sie komplett neu aufzuziehen, und ich hatte die Hoffnung, dass mir die Luftveränderung in Wetzlar dabei helfen könnte, eine neue Perspektive für den neuen Ansatz zu bekommen. Und das geht hier gerade so mittelgut, was nicht an der Bibliothek liegt, sondern an mir oder dem Projekt. Immerhin, ich habe innerhalb der ersten Woche fast vierzig Seiten neu geschrieben, und so gut bin ich seit dem November nicht an dem Buch vorangekommen. Aber ich bin immer noch nicht sicher, wie zufrieden ich mit dem Geschriebenen nun bin. Die neue Fassung gefällt mir besser als die alte, hat aber in meinen Augen immer noch mehr Luft nach oben, als unbedingt sein sollte.

Inzwischen läuft es gut mit mir hier in der Bibliothek. In den ersten Tagen aber ist mir buchstäblich die Decke auf den Kopf gefallen, ich war drauf und dran, mich zum Wochenende wieder abholen zu lassen, und ich traute mich kaum aus meinem Gästezimmer heraus. Dadurch, dass ich am Wochenende angekommen war, konnte ich zwar die ganze Bibliothek kennenlernen – nicht jedoch das Kollegium. Dem musste ich mich am Montag in Eigenregie vorstellen – keine große Sache, sollte man meinen, man geht einmal durchs Haus, stellt sich nett vor, erzählt ein bisschen von sich selbst und dem Stipendium: Wäre ich nicht schon fast krankhaft schüchtern.

Wenn ich eine Bühne habe, ist das eine völlig andere Sache. Gebt mir ein Publikum, ein Tintenzirkeltreffen, gebt mir eine offizielle Funktion, und ich bin eine Rampensau, singe, lese, erzähle, moderiere, habe kein Problem, mich zum Horst zu machen, bin lustig, selbstironisch, und kann richtig aus mir raus gehen. Aber wenn ich nicht auf einer Bühne stehe, nicht der Admin bin, wenn ich einfach nur ich selbst sein muss … ein Trauerspiel. Ich gerate in Panik, lange bevor ich auch nur den ersten Schritt tun muss, spiele die Vorstellung so lange und oft im Kopf durch, bis sie sich endgültig wie ein unschaffbares Hindernis anfühlt, und rede mich dann um Kopf und Kragen.

Steampunk.Abteilung
Da gibt es ein eigenes Steampunk-Regal – und ich habe meinen Hut zuhause gelassen!

Und so wurde dann auch meine Vorstellungsrunde in der Bibliothek ein glatter Fehlstart. Mit einem munteren »Guten Morgen!« marschierte ich am Montagmorgen zum ersten Bibliothekar hin, den ich erspähte, und dann sprudelte aus mir heraus, dass ich jetzt als Hausgast hier residiere … Und offenbar kam ich gerade nicht so wirklich gelegen, oder zumindest war ich mir felsenfest sicher, ungelegen reingeplatzt zu sein. Natürlich: Nach drei Wochen Pause wieder zurück am Arbeitsplatz, eine Menge Dinge zu erledigen – die Reaktion war nicht unfreudlich, aber etwas einsilbig, und ich konnte voll verstehen, dass ich die Arbeit störte, und die kleine Stimme in meinem Kopf bestätigte mir, dass ich ungelegener nicht hätte kommen können. Ich zog mich in mein Gästezimmer zurück und beschloss, den Rest der Vorstellungsrunde auf den Nachmittag zu verschieben, wenn die Bibliothek für den Publikumsverkehr geöffnet war und ich vielleicht nicht ganz so unpassend daherkam.

So wagte ich mich tatsächlich noch mal kurz vor die Tür, stellte mich noch mal zwei Bibliothekarinnen vor, die mich herzlich begrüßten, und nahm Reißaus, als der erste Leser kam, um Distanz zu halten. Und verschwand für die nächsten anderthalb Tage in meinem Gästezimmer und hörte auf die kleine Stimme im Kopf, die meinte, dass ich mich besser verstecken sollte. Ich hatte mich schon oft schlecht angestellt, wenn es um Vorstellungen ging, aber so katastrophal war es noch nie. Und dann verstand ich: Covid hat mich kaputtgemacht. Ich habe die letzten beiden Jahre praktisch in Isolation gebracht, niemanden gesehen bis auf meinen Mann, und nur wenn es sich überhaupt nicht mehr vermeiden ließ, habe ich das Haus verlassen oder bin gar in die Stadt gegangen. Ich kann lange und ausdauernd in einem Zimmer sitzen und still vor mich hinleiden, ohne mich jemals vor die Tür zu wagen, und dank Covid fühlt sich das dann auch noch so an, als wäre es die beste Wahl.

So hockte ich bis Mittwoch im Gästezimmer, saß dort am Schreibtisch arbeitete höchst produktiv vor mich hin, fest überzeugt, sonst nur im Weg zu sein, Arbeit zu machen, ungelegen zu kommen … Das Bibliothekskollegium machte sich wohl schon Sorgen um diesen seltsamen Gast, der sich nicht blicken ließ. Das Gästezimmer ist wirklich gar nicht so ungemütlich, nur die Wände ein bisschen kahl, und die Fenster sind vergittert, aber das macht mir wirklich wenig aus – aber ich fühlte mich kalt und einsam, mir fehlte mein Mann, meine Badewanne, und ich war drauf und dran, Klaudia eine Mail zu schreiben, weil ich es nicht aus dem Zimmer schaffte – als sie zu mir hinunterkam, nach mir schaute, und mich für den Mittag auf eine Pizza im Kollegenkreis einlud. Und ab da wurde es toll. Alle waren nett, niemand hat mich gefressen, ich komme jetzt mit Leuten ins Gespräch und habe Spaß, alles mit anderthalb Metern Abstand und Masken, natürlich.

Märchen-Thron
Zu guter Letzt: Der Märchen-Thron

Memo an mich: Wirklich an meinem Selbstbewusstsein arbeiten. Glaubt mir ja keiner, der mich einmal mit Hut und Krawatte auf einer Veranstaltung erlebt hat, dass ich wirklich das feigste Stück Mensch unter der Sonne bin, wenn es drauf ankommt. Aber jetzt, immerhin, ist das Eis gebrochen, und natürlich bleibe ich die vollen zwei Wochen und genieße seitdem jeden Tag, den ich hier bin. Mehr noch, ich plane schon, bei nächster sich bietender Gelegenheit wiederzukommen. Diesmal als Bibliothekarin. Denn so toll die Phantastische Bibliothek auch ist, ein Manko hat sie: Es gibt keinen vollständigen Katalog der Bestände. Und es juckt mich unter den Fingern, mich hier noch mal einzuquartieren und Regalmeter für Regalmeter die Bestände zu erfassen und anständig zu verschlagworten.

Damit, wenn das nächste mal eine Autorin kommt und nach Fantasyserien aus den 1980ern sucht, in denen eine Heldengruppe mit einer wilden Schnitzeljagd quer durch die Welt die mystischen Artefakte einsammelt, man einfach an den Rechner gehen und nach Schlagwort = Sammelqueste suchen kann. So recherchiere ich die möglichen Serien im Internet und habe eine faire Chance, die dazugehörigen Bücher auch am Regal zu finden, denn ziemlich vollständig ist sie ja, die Bibliothek, und bietet auch einen guten Überblick darüber, wie sich die Fantasy in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat.

Aber die Katalogisierung ist ein Langzeitprojekt, das Zeit hat für ein andermal. Erstmal bin ich zum Arbeiten da, und zum Spaßhaben, und kann nach den ersten Anlaufschwierigkeiten beides bestätigen. Wer einmal in der Gegend von Gießen, Siegen oder Marburg sein sollte: Macht einen Abstecher nach Wetzlar, geht in die Phantastische Bibliothek. Es lohnt sich!

2 Kommentare zu “Allein unter Büchern

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