Der Romanfriedhof: »Zirkus in der Stadt«

Neues Jahr, neues Glück: Es ist wieder an der Zeit, zurückzublicken auf diejenigen Geschichten, die auf die eine oder andere Weise, aber immer spektakulär, gescheitert sind. Heute: Ein Werk, das den Titel »Roman« nicht verdient hat, aber die Weichen gestellt hat für Jahrzehnte voller vor die Wand gefahrener Geschichten.

Ich war gerade acht Jahre alt geworden und ging ins zweite Schuljahr, als ich anfing, ein Buch zu schreiben. Ich weiß noch, dass ich während einer Schulstunde damit anfing: Wahrscheinlich im Förderunterricht, weil ich mich in diesem Fach meistens selbst beschäftigen durfte (und es über alle Maßen genoss, einmal etwas Zeit für mich allein zu haben). Jedenfalls malte ich ein Bild von einem Clown, der mit Bällen jongliert, und schrieb den Titel »Zirkus in der Stadt« dazu, und wo ich gerade dabei war, fing ich auf der Rückseite des Blattes an, die Geschichte dazu aufzuschreiben. Diese Version ist nicht erhalten, auch wenn weder ich, noch meine Eltern sie jemals weggeworfen hätten, aber ich war nie der ordentlichste Mensch, und irgendwann muss sie verlorengegangen sein.

Es war nicht die erste Geschichte, die ich mir ausgedacht hatte, wohl aber die erste, die ich aufschrieb. Und es geschah aus einer Laune heraus, ohne lange Planung, Plotten oder auch nur eine Idee .… Weiterlesen

Das, was war, und das, was bleibt

Ich habe ein wirklich gutes Gedächtnis. Das kommt mir sehr entgegen, wenn es darum geht, Liedtexte zu behalten, und Shakespeares »Hamlet« kann ich in weiten Teilen auswendig – aber wo es um meine Depresisonen geht, kommen die Erinnerungen, um mich in den Hintern zu beißen.

Meine Kindheit und Jugend war, alles in allem, schön, mit einem verständnisvollen Elternhaus und drei Geschwistern, mit denen ich mich unterm Strich gut verstanden habe, mit vielen Möglichkeiten, mich zu entfalten und der Freiheit, meinen Weg zu gehen, mit der freundlichen Hilfestellung, außerdem etwas Richtiges zu werden, weil ich Schriftstellerin immer noch werden kann, und ich bin es geworden. Ich habe viele wirklich schöne Erinnerungen, auf die ich zurückblicken kann – doch wenn es drauf ankommt, dann passiert das Gegenteil.

Immer, wenn ich es nicht brauchen kann, kommen die Erinnerungen hoch, die ich am liebsten vergessen würde. Die Male, in denen ich gemobbt wurde, mich habe schikanieren lassen, die falschen Entscheidungen getroffen … Man kann leicht denken, das Problem bei Depressionen sind die Schmerzen, die man im Leben ausgestanden hat, die Traumata, die man erleiden musste, aber bei mir geht es immer um etwas anderes: Um mein eigenens Versagen. In meinen Erinnerungen bin ich nichts, bin ich wertlos.… Weiterlesen

Tag Vier: Mein erster Held

Es ist mal wieder an der Zeit, mich dem Dreißig-Fragen-Stöckchen zuzuwenden, damit ich noch in diesem Leben damit zum Ende komme, als geht es nun weiter mit der nächsten Frage:
4. Erzähl uns von einer deiner ersten Geschichten/Figuren!

Strenggenommen müsste ich mit Pombo anfangen, wenn ich nicht zugeben müsste, dass ich bis auf seinen Namen so ziemlich alles über ihn vergessen habe. Ich muss damals irgendwas um die vier Jahre alt gewesen sein, und die Geschichten von Pombo habe ich mir erzählt, wenn ich in den Bettkasten meiner Eltern geklettert bin, der eine vortreffliche Höhle abgegeben hat. Hätte ich die Geschichten bloß auch mal jemand anderem erzählt! So weiß ich nur noch, dass Pombo im Eis eines Sees eingefroren war (ob nur mit den Füßen oder Ganzkörper, ist nicht überliefert) und dort auf den Frühling warten musste. Und das war’s auch schon. Abgang Pombo. Aber um so mehr Eindruck hat sein Nachfolger hinterlassen, der Räuber Buddelmann. Und nein, damit ist nicht mein neuer Hamster gemeint, so treffend für den die Bezeichnung auch wäre.

Der Räuber Buddelmann entstand, als ich fünf Jahre alt war und meine Eltern im Urlaub ein Bauernhaus in Ostfriesland hüteten. Es war kein Ferienhaus, und zum Schlafen hatte ich eine Matratze auf dem Boden eines Zimmers, in dem eine Reihe großer Masken an der Wand hing – afrikanisch, möchte ich heute vermuten, aber da es keine Fotos davon gibt, kann ich nur in der Erinnerung kramen.… Weiterlesen

Lustig ist das Lager-Leben

Als Kind war ich immer ein großer Freund von Sommer- und Zeltlagern. Als Siebenjährige war ich zu Pfingsten in einem Friedenscamp und lernte, Handpuppen zu nähen, mit zehn verbrachte ich mit meiner Schwester zehn Tage in einem Hüttendorf in den Niederlanden, wo meine Schwester sich Kopfläuse anfing und ich mir Gesicht und Hände verbrühte, als ich eine blecherne Zweiliterkanne heißen Tees quer durch das Lager tragen musste, und mit dreizehn und vierzehn fuhr ich mit dem Jugendrotkreuz in die Eifel, um meine Eltern wenig zu begeistern mit der Postkarte »Ich habe mir den Fuß verstaucht, aber der Gips ist schon wieder ab« – sie hätten das doch gerne etwas früher erfahren, zum Beispiel von der Lagerleitung. Aber egal, ich war begeistert. Als ein Kind, das virtuell keine Freunde hatte, war es für mich etwas Tolles, mit einem Haufen Wildfremder zusammengewürfelt zu werden und ohne Vorurteile und böse Gerüchte quasi bei Null anzufangen. Die Zufallsgemeinschaften in der Hütte oder im Zelt entwickelten natürlich schnell eine Sozialstruktur und Hierarchie, in der ich längst nicht immer oben stand, aber selbst wenn es schrecklich wurde, das zweite gute an diesen Lagern war ja, nach zwei Wochen spätestens waren sie durchgestanden.

Und heute, als Erwachsene, habe ich mich wieder in einem Lager interniert.… Weiterlesen

Wunder gibt es immer wieder

Gegen Ende der Mittelstufe hatte ich nicht wirklich viele Freunde in meiner Klasse, oder zumindest keine, die im Zweifelsfall zu mir gehalten hätten. Aber das glich ich durch meine zahlreichen Brieffreunde aus, deren Adressen ich über den International Youth Service, ein finnisches Unternehmen, das damals schon Computer zur Partnervermittlung nutzte, bekommen hatte. Angelica und Anna aus Schweden schrieben jeweils nur einmal, Lisbeth in Dänemark habe ich sogar besucht, woraufhin sie sich nie wieder meldete, kaum besser lief es mit Zoe aus England, spannend waren Azhawati aus Malaysia oder Young Yo aus Korea, von der ich inzwischen vermute, daß Young ihr Nachname war… Und dann gab es noch Molly aus Ohio und Julia aus New York.

Vor allem Julia. Sie war eine verwandte Seele, Umweltaktivistin, Dichterin, sehr unamerikanisch auf der einen Seite und doch genau das, was ich mit unter meiner amerikanischen Brieffreundin vorgestellt hatte. Einmal wäre sie mich fast besuchen gekommen, die Eltern hatten schon zugestimmt, aber dann ist doch nichts draus geworden, trotzdem: Die Brieffreundschaft bestand fort. Wir schrieben uns von 1989 bis 1994, eine lange Zeit für so junge Menschen wie uns, und dann passierte das übliche: Wir beendeten die Schule, traten ein in den Uni- oder Collegealltag, das Leben veränderte sich radikal binnen kürzester Zeit, und plötzlich schlief die Brieffreundschaft ein, einfach so.… Weiterlesen

Sankt Martin, bist ein guter Mann

Gerade zieht an unserem Haus der Martinszug vorbei, mit Blaskapelle, vielen Kindern mit Laternen und gefühlt noch zweimal so vielen Eltern. Da bekomme ich ein leichtes Déjà-vu-Gefühl, denn letzte Woche ist auch schon so ein Zug am Haus vorbeigelaufen, auch mit Blaskapelle, aber vielleicht machen die das hier im Frankenberger Viertel ja nicht ohne Generalprobe? Vielleicht ist heute nicht der beste Tag für so etwas, immerhin ist heute Volkstrauertag, und von mir aus hätte man den Zug auch direkt an St. Martin machen können – aber vielleicht ist das ja auch Absicht mit Hintergedanken, denn am Martinstag begehen alle Weltkriegsbeteiligten außer den Deutschen den Armistice Day (auch Veterans‘ Day, Poppy Day), den Tag des Waffenstillstands, der den Ersten Weltkrieg beende, und während sich in Deutschland die Jecken ihre roten Pappnasen aufsetzen, stecken sich anderswo die Veteranen eine rote Mohnblume ans Revers. Der Volkstrauertag ist in Deutschland der Ersatz dafür, und so passt es vielleicht ganz gut, den Martinszug auf diesen Tag zu verschieben.

Zum Volkstrauertag passt auch, dass von den Kindern da draußen keines gesungen hat. Die Blaskapelle spielt »Ich gehe mit meiner Laterne«, und der restliche Zug hüllt sich in andächtiges Schweigen. Ich war kurz davor, ein Fenster aufzureißen und lauten Gesang anzustimmen, aber ich habe es dann doch gelassen.… Weiterlesen

Das Monster und sein Autor

Als Maja zwölf Jahre alt war, beschloß sie, von zuhause auszureißen. Alles war schrecklich – die anderen Kinder tyrannisierten sie, und ihre Eltern hatten die jüngeren Geschwister viel lieber, und überhaupt – konnte sie überhaupt etwas anderes tun, als davonlaufen?

Und so stand sie nachts auf, zog ihren Anorak an und ihre Schiffermütze, die sie so sehr liebte und für die sie von allen ausgelacht wurde, und steckte ihr Geld ein und ihr Kindersparbuch, und verließ leise und unbemerkt das Haus, um in die weite Welt hinauszuziehen.

Sie kam bis ans Ende der Straße, wo auf der Ecke ein großer Busch wuchs. Sie versteckte sich in diesem Busch, um dort zu warten bis zum anderen Abend – denn sie rechnete damit, daß ihre Eltern sie überall suchen würden, in der Nachbarstadt und darüber hinaus, aber sicher nicht in einem Gebüsch am Ende der eigenen Straße. Erst am übernächsten Tag würde die Luft rein sein und die Welt bereit, sie aufzunehmen…

Maja hielt es zwanzig Minuten in ihrem nächtlichen Gebüsch aus. Dann wurde das Heimweh zuviel, und sie ging zurück, hängte den Anorak an die Garderobe, packte das Sparbuch zurück in die Schublade, und ging zu Bett. Und bis zum heutigen Tag weiß niemand aus ihrer Familie, daß es einen Tag gab, an dem Maja davonlief.… Weiterlesen