Vor nicht weniger als dreizehn Jahren hatte ich die Idee zu einem Kinderbuch, das an keinem anderen Ort spielen sollte als in der Wohnung, in der mein frischangetrauter Mann und ich in Aachen wohnten – und eine zentrale Rolle spielten die Bilder, die wir 2008 bei der Renovierung der Wohnung hinter den alten Tapeten der noch viel älteren Vormieterin gefunden hatten. Eine Geistergeschichte sollte es werden, bei der ein Mädchen aus unserer Zeit über diese Bilder in die Vergangenheit reist und sich mit dem gleichaltrigen Mädchen anfreundet, das diese Zeichnungen geschaffen hat.
Der damalige Plot sah vor, dass Ilsabeth, die in den 1920ern noch ais Kind gestorben war, Frieke für sich allein haben will und schließlich als besitzergreifender Geist in der Gegenwart auftaucht. Mir gefiel die Idee eigentlich gut, auch meine Agentin war von dem Konzept angetan, aber wie aus vielen Ideen, die ich über die Jahre hatte und habe, wurde nichts draus. Ich schrieb acht Seiten, mit denen ich nicht zufrieden war, ich bekam keinen Draht zu meiner Hauptfigur, und so verblieb das Fragment aus erstem Kapitel und Exposé im Oder »Geplant« und rührte sich dort nicht von der Stelle.
Erst 2024 sollte wieder Bewegung in die Sache kommen, als die Agentin und ich ein Projekt suchten, das wir dem Verlag als Nachfolger für »Die vierte Wand« anbieten konnten. Und nachdem ich mit der Verlagsgruppe Oetinger schon zwei sehr besondere, philosophische Bücher umgesetzt hatte, stand fest, dass das neue Buch in eine ähnliche Richtung gehen sollte – kein nettes kleines Kinderbuch, sondern etwas mit bewegender Wucht. Und ich stand auf dem Schlauch. In der Schublade hatte ich kein fertiges Manuskript für diese Altersgruppe, und Ideen hatte ich auch keine – wäre es um Bücher für ältere Jugendliche gegangen, so ab vierzehn, hätte ich meine Lektorin mit Projekten überschütten können, aber ab zehn oder zwölf sah es mau aus.
Bis mir, eher zufällig, meine «Verborgenen Bilder« wieder in den Sinn kamen – aber eine nette Geistergeschichte war nicht das, was mein Verlag suchte, das wussten meine Agentin und auch ich, und so konzipierte ich das Buch um, ließ die Zeitreisen drin, aber nahm den Spuk raus, und baute eine brisante politische Ebene ein, die das Buch vorher nicht gehabt hatte. Agentin sagte, sinngemäß, »Das ist es!«, und meine Lektorin sagte das Gleiche und gab mir vom Fleck weg einen Buchvertrag, ohne dass ich auch nur eine Leseprobe hätte reinreichen müssen, so viel Vertrauen hatten sie in mich und die Idee.
Aber ich selbst geriet ins Schwimmen. Die politische Ebene machte mich fertig, zusammen mit den politischen Entwicklungen in der Welt um mich herum. Ich wusste, dass »Die verborgenen Bilder« mein bis dato wichtigstes Buch werden sollte, und das erdrückte mich. Auch wenn ich vom Verlag fast ein ganzes Jahr bekommen hatte, um ein Buch von 250 Normseiten zu schreiben, kam ich nicht in die Gänge. Ich verlor mich in unendlichen Recherchen, ich hatte Angst vor dem Buch, und ich hatte Angst vor dem, was passieren sollte, wenn es einmal draußen wäre – ich fürchtete einen Shitstorm von rechtsgerichteten Leser:innen, und ich muss zugeben, den fürchte ich immer noch. Aber gleichzeitig wusste ich, es war wichtig, dieses Buch zu schreiben, und wichtig, es jetzt zu schreiben, wo unsere Welt am Abgrund rumtaumelt.
Es ist nicht so, dass ich gar nichts geschrieben hätte – bis Januar hatte ich immerhin rund 100 Seiten zustande gebracht – aber dann verließen sie mich. Die Depression hatte mich im Griff, und von Februar bis Mai schrieb ich überhaupt nichts. Der nahende Abgabetermin suchte mich heim, gab mir Albträume, aber ich kam trotzdem nicht mehr ins Schreiben rein. Erst mit einem Hilferuf an meine Agentin kam wieder Bewegung in die Sache. Sie nahm mich an die Hand, ließ mich ihr jeden Tag mein Tagespensum schicken, und stand mir mit Rat und Tat zur Seite – dass sie sich selbst Geschichte studiert hat und sich mit meiner Epoche wirklich gut auskennt, kam mir da sehr gut zupass.
Und nach ein paar Tagen platzte der Knoten, schrieb ich mich wieder frei. Jeden Tag 1.500 Wörter, das ist auch nicht anders als ein Nanowrimo, und was den anging, habe ich das viele Jahre lang bewiesen, dass ich so arbeiten kann, wenn ich mich einmal hinsetze und schreibe. Was ich im Vorfeld an historischen Fakten recherchiert hatte, konnte ich jetzt brauchen, viele Kleinigkeiten, wie die Geschichte des Türsummers, las ich mir im Vorübergehen an, und trotz des ernsten Themas und einigen Szenen, die mir echt an die Nieren gingen, klappte das Schreiben immer besser.
Mein Zeitplan sah vor, bis zum 25. Juni fertig zu sein, dass das Buch dann eine Länge von ungefähr 65.000 Wörtern haben sollte – und ich legte eine Punktlandung hin. Gestern, am Stichtag, habe ich also die letzten Zeilen geschrieben, und mit einer Gesamtlänge von 66.362 Wörtern hat die Rohfassung auch genau den gewünschten Umfang. In der jetzt anstehenden Überarbeitung werden nochmal gut zehn Prozent Text rausfliegen, und dann bin ich bei genau den 250 Seiten, die ich im Vertrag stehen habe.
Ich bin erleichtert, dass es doch noch geklappt hat, ich bin meiner Agentin dankbar wie nur was für den Beistand, und ich denke, es ist ein wirklich gutes Buch geworden, allemal besser als der erste Plotentwurf von 2012. Und ganz sicher besser als das Vorgängerkonzept von 1991, wo ich zum ersten Mal die Idee eines Buches hatte, das auf zwei Zeitebenen spielen sollte und bei dem ein modernes Mädchen in die 1920er reisen sollte mit der Erkenntnis, dass sie damals schon einmal gelebt hat. Damals war ich daran gescheitert, dass ich nicht genug über das Leben in den 1920ern wusste – heute, nach einer Abiturprüfung über die Weimarer Republik, nach mehreren Büchern über den 1920er-Geisterfotographen Percy Jessup, nach ausgedehnten Recherchen über die und viel Primärliteratur aus dieser Zeit fühle ich mich da als Autor durch sicher.
Trotzdem – für ein Kinderbuch habe ich dann doch alles nochmal doppelt und dreifach nachgelesen. Ich schreibe da für Menschen, die über diese Zeit selbst noch nicht so viel wissen, und ich möchte nicht, dass sie durch mich einen falschen Eindruck bekommen. Das war eine der Sachen, die mir beim Schreiben so im Weg gestanden haben – ich wusste nicht, schreibe ich ein Lehrbuch oder einen Roman, ich wollte mir keine Freiheiten rausnehmen, alles musste stimmen bis ins kleinste Detail, und wehe, ich baute irgendwo einen Fehler ein! Jetzt, wo das Buch fertig ist, kann ich nur hoffen, dass wirklich alles so stimmt, wie ich es geschrieben habe. Aber das Buch geht jetzt ja auch erstmal durch die Überarbeitungsrunde, dann durchs Lektorat, das gibt mir Chancen, noch alle vielleicht fehlerhaften oder ungenauen Stellen auszubessern.
»Die verborgenen Bilder« ist fertig. Ich habe immer noch Angst vor dem Impact, den diese Geschichte wahrscheinlich haben wird, und den zu erwartenden Konsequenzen für mich selbst. Aber ehrlich – das ist mir immer noch lieber, als wenn die Geschichte sang- und klanglos untergehen sollte. Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt, und wenn ich jetzt nicht stark genug für diese Geschichte bin, wann dann?
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