»Ich hasse Bücher!«

Gestern traf ich meine Nichte. Ich sehe sie nur selten, im Schnitt nicht öfter als einmal im Jahr, da mein Schwager mit seiner Familie in Norddeutschland lebt, eine ganze Ecke weg von uns. Aber da gestern meine Schwiegermutter ihren Geburtstag feierte, war das eine von den Gelegenheiten, wo die ganze Familie zusammenkommt, und so traf ich meine Nichte. Sie ist acht Jahre alt, gerade ins dritte Schuljahr gekommen, und ich kenne sie als ein intelligentes, wissbegieriges Mädchen. Wie wir, ist auch ihre Familie gerade in ein neues Haus gezogen, wir unterhielten uns übers Umziehen, sie fragte, ob wir wirklich in einer Villa wohnten, und ich zeigte ihr ein paar Fotos von unserem Haus – darunter auch eines von unserem Bücherregal im Esszimmer, das über die ganze Breite der Wand und sogar noch um die Ecke geht und fertig eingeräumt war, lange bevor wir auch nur an die Montage der Küche dachten.

Meine Nichte starrte das Bild an, und ich wartete auf einen Ausruf der ungläubigen Bewunderung. »Sind das alles Bücher?«, fragte sie. »Das alles?« Ich nickte. »Auch die da?« Sie hatte die Perry-Rhodan-Sammlung meines Mannes entdeckt, deren metallisch glänzende Buchrücken tatsächlich sehr futuristisch aussehen und ebensogut etwas anderes hätten sein können, aber natürlich auch Bücher sind.
»Alles Bücher«, bestätigte ich. »Und das sind noch nicht einmal alle, wir haben ganz viele Kisten noch nicht ausgepackt.«
Meine Nichte runzelte die Stirn und sah mich an, als zweifle sie ernsthaft an meinem Geisteszustand. Dann sagte sie: »Ich hasse Bücher.«

Jetzt war ich diejenige, die völlig von der Rolle war. »Wie, du hasst Bücher?«
Das Mädchen nickte. »Sie sind so anstrengend.« Danach erklärte sie mir mit Begeisterung, was für einen Spaß Fernsehen und Computerspiele machen, und wie sie und ihr kleiner Bruder das Passwort für den Computer der Eltern geknackt hatten und heimlich morgens früher aufgestanden sind, um unbeobachtet den den Rechner zu können. Wirklich, aufgeweckte, intelligente Kinder. Ich kenne Kinder, und auch Erwachsene, die nicht gerne lesen. Aber diese Vehemenz, Bücher aktiv zu hassen, das war für mich dann doch etwas völlig Neues. Und es gelang mir nicht, meiner Nichte zu erklären, was daran attraktiv sein soll, sich die Arbeit zu machen, ein Buch zu lesen, wenn man ebensogut eine Fernsehsendung fertig vorgekaut konsumieren kann oder in einem Computerspiel eine Geschichte mittendrin erleben.

Es gab mir wirklich zu denken. Wie kann es so weit kommen, dass Kinder anfangen, Bücher und alles, was mit dem Lesen zu tun hat, zu hassen? Haben die Eltern nicht genug vorgelesen? Oder ist es umgekehrt, gewöhnt man mit Vorlesen Kinder daran, dass Geschichten ohne Eigeninitiative konsumiert werden können? Viel Raum für Theorien. Ich habe gut reden, ich habe selbst keine Kinder. Und ich hatte auch noch nicht die Gelegenheit, mit meinem Schwager oder meiner Schwägerin über diese Aussage zu reden – trotzdem, selten hat es ein Kind geschafft, mich zu schocken, zumindest, seit ich erwachsen bin. Es war meiner Nichte ernst. Sie liest nicht nur nicht gern. Sie hasst Bücher. Und das in einem Alter, in dem ich vergnügt mein erstes Buch geschrieben habe.

Es ist nicht fertig geworden, natürlich. Es ist auch aus heutiger Sicht kein besonders gutes Buch. Aber es war der Grundstein für das, worauf heute mein ganzes Leben aufbaut – die Liebe zum Lesen, die Liebe zu Büchern, die Liebe zum Schreiben. Ich sehe auch gerne fern. Ich spiele auch gerne Computerspiele. Weder das eine noch das andere will ich verdammen. Aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen, dass Lesen im Vergleich dazu so anstrengend sein könnte, dass Bücher damit zu etwas Verabscheuungswürdigem werden könnten. Aussagen, dass das Lesen ausstürbe, habe ich deswegen immer von mir gewiesen – wusste ich doch aus eigener Erfahrung, dass das intensive Erlebnis des Gelesenen den Mehraufwand im Vergleich zum Fernsehen durchaus rechtfertigt.

Haben sich die Zeiten wirklich so geändert, oder ist meine Nichte nur ein Einzelfall? Und was kann ich, als Tante, die man nur einmal im Jahr trifft, unternehmen, um aus diesem blitzgescheiten Kind doch noch eine Leserin zu machen? Ich fühle mich, als ob ich versagt hätte. Meine Nichte hasst das Lesen. Aber ich konnte nicht einmal ansatzweise erklären, dass und warum ich es liebe.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert