Wenn die Eulen enden

Ich habe ein ganz besonderes Verhältnis zu Eulen. Den größten Teil meines Lebens über glaubte ich, die Eule im Wappen zu führen: Ein ahnenforschender Vorfahr von mir hatte den Namen meiner Familie per Stammbaum auf die Schreibweise Ulich zurückführen können, und wo soll Ulich herkommen, wenn nicht von der alten Ul, der Eule? Zugegeben, dieser Ahnenforscher war Westfale, und im Plattdeutschen heißt die Eule tatsächlich Ul, oder Uule – der Name IIisch kommt aber aus dem polnischen Raum, und im Polnischen heißt die Eule Sowa. Sehr, sehr unwahrscheinlich, dass meine Vorfahren wirklich einen Garten voller Eulen hatten. Tatsächlich geht der Name Ilisch (oder Ulich) wahrscheinlich auf das Wort Ulica zurück, was Straße bedeutet: Also eher jemand, der an der Straße gewohnt hat oder viel auf ihr unterwegs war: Eher ein Hausierer denn der Gehlehrte, den wir da gerne gehabt hätten.

Das hat mich aber nicht davon abgehalten, mit einen Siegelstempel mit Eulenmotiv zuzulegen. Und den Verlag, den ich einmal gegründet habe – und wieder abgemeldet, ohne auch nur ein Buch verlegt zu haben – »Nachtkauz Verlag« zu nennen. Ich habe sogar eine kleine Eulensammlung, die sich über die Jahre mehr zufällig hier eingefunden hat. Ich mag Eulen wirklich, und was mich angeht, betrachte ich sie auch jetzt, nachdem meine Eltern die wahren Hintergründe des Familiennamens herausgefunden haben, immer noch als Wappentier ehrenhalber. Eulen sind faszinierende Tiere – nachaktiv, wie ich es über zu viele Jahre war, und mit Gelehrsamkeit assoziiert, obwohl sie bei weitem nicht über die Intelligenz eines Rabenvogels verfügen. Wer sie im Garten hat, wie das bei meinen Eltern der Fall ist, dem kotzen sie ihre Gewölle in den Hof, und wirklich, wie man sie überhaupt mit Büchern in Verbindung gebracht hat, weiß ich nicht, aber sie haben wirklich sehr große Augen, und sie machen sich gut im Logo einer Buchhandlung oder im Signet eines Verlags.

Als Lust bekam, mal wieder einen historischen Gaslichtroman zu schreiben, nach dem »Puppenzimmer« und den »Spiegeln von Kettlewood Hall«, habe ich nicht lang überlegen müssen, um zu wissen, dass diesmal Eulen eine größere Rolle in der Handlung spielen sollten. Der Name des Hauses, Owls End, hat mich regelrecht angesprungen, und das wurde auch der Arbeitstitel des Romans. Owls End, das klingt schön mysteriös, passt zum Genre, und lässt einen erst einmal vergessen, dass Eulen lautlose Jäger sind, die ihre Beute lebendig verschlingen: Als Namensgeber für ein Anwesen versprechen sie einen Hauch von Gefahr, den man nicht unterschätzen darf. Ich sammelte Motive, die ich in dem Buch auftreten lassen wollte, so wie »Kettlewood« mit Spiegeln und einem Schachspiel angefangen hat und die »Mohnkinder« mit Mohnblumen, Eisenbahnen und einer Spieluhr: So notierte ich mir »Eulen, Feen, ein leerer Kinderwagen«. Und sehr schnell fügte sich daraus ein Plot zusammen.

Ich ging einige Monate mit der Idee spazieren, ich hatte es nicht eilig: Dieses Projekt schrie danach, im Nanowrimo geschrieben zu werden, es passte so gut in den nebligen Herbst, dass mir Zeit zum Plotten blieb und Zeit zum Recherchieren. Das vielleicht Wichtigste, wenn man einen Gaslichtroman schreibt, ist die unerschrockene Heldin, ohne kommt das Buch nicht aus, und ich fand meine Inspiration in der Biographie der englischen Kinderbuchautorin und Illustratorin Beatrix Potter, die ein großes Interesse an naturkundlichen Themen hatte, insbesondere Botanik, hatte und ein überragendes Wissen über Pilzsporen besaß. Potters Leben ist faszinierend, nicht nur, weil sie am Ende die Schriftstellerei aufgegeben und ihr Leben als renommierte Schafzüchterin beendet hat.

Aber ich wollte natürlich kein Buch über Beatrix Potter schreiben, namentlich keinen Gaslichtroman: Ich nehme Inspiration mit, wo ich gehe und stehe, und von Potter übernahm ich dann nur, dass meine Heldin eine Tochter aus gutem Haus ist, oberer Mittelstand, die ein großes naturkundliches Interesse mitbringt: In Adelias Fall sind es Flechten, die es ihr besonders angetan haben, diese nahezu unsterblichen Pilzkolonien, die auf Stein wuchern. Und da hatte ich das Motiv der Unsterblichkeit, mit dem ich sehr gern arbeite und das so gut zu einem Buch über Feen passt. Erwähnte ich, dass ich Feen liebe? Und weil es mehr als zehn Jahre her war, dass ich das s»Puppenzimmer« und »Geigenzauber« geschrieben habe und fand, langsam ist es mal wieder an der Zeit für ein paar Feen, wurde »Owls End« also zu einem Buch mit und über Feen.

In »Owls End« begegnet uns aber nicht die holde Feenkönigin, die ein Landhaus in Worcestershire bewohnt, sondern jener Schlag von Fee, dem man nachts ein Schälchen Milch auf die Türschwelle stellt, damit sie milde gestimmt sind und nicht die Kinder stehlen. Die Unterirdischen leben im Garten von Owls End, und sie haben offenbar zu lange keine Milch bekommen, und meine Heldin, die inzwischen den Namen Adelia Borrell bekommen hatte (wirklich, der Name einer Gaslichtheldin ist so wichtig, und ich bin immer noch unglücklich, dass die »Kettlewood«-Heldin nicht Isis Harding heißen durfte) bekommt den Auftrag, einen leeren Kinderwagen im Garten spazierenzufahren. Schaurig!

Aber ein Gaslichtroman braucht nicht nur eine Heldin und gruselige Elemente – er braucht auch eine Romanze. Und was das angeht, ist es erstaunlich, dass ich so gerne Gaslichtromane schreibe. Ich fühle mich beim Schreiben von Romanzen nämlich immer sehr unsicher. Ich bin kein so entsetzlich romantischer Mensch, ich lese keine Liebesromane (also Romane, bei denen die Liebesgeschichte den entscheidenden Teil der Handlung ausmacht), und besonders unbeholfen werde ich, wo es um Erotik geht. Nicht, dass ich noch keine Liebesgeschichten geschrieben habe und keine erotischen Szenen – vor allem in »Engelsschatten« und »Schwanenkind« gibt es einiges von der Sorte: Aber ich habe einfach nicht das Gefühl, dass das meine große Stärke ist.

Und doch, als ich »Owls End« plante, wusste ich, dass das Buch nicht nur ein bisschen Liebe bekommen sollte und nicht nur ein paar verschämte Küsse. Als Gracie auftrat, die Augen hat wie der Himmel im Schatten des Regenbogens und die nach Regen und Brennnesseln riecht, wusste ich: »Owls End« wird ein feministischer, queerer, sex-positiver Gaslichtroman. Und mit Adelia (»Della«) Borrell hatte ich eine Hauptfigur, die nicht das Elend der Fabrikarbeiterinnen zum Hintergrund hatte oder das düstere Schicksal eines Waisenmädchens, wie Iris oder Florence, und die doch um ihre Identität kämpfen muss in einer Zeit und Gesellschaft, in der männliche Homosexualität kriminalisiert wird – und weibliche totgeschwiegen, als wäre sie nicht existent.

Adelia wird nicht von einer Fee verführt und wird dadurch lesbisch – Adelia ist sich von Anfang des Buches an bewusst, dass sie Frauen liebt. Ihr Verlöbnis mit dem schnittigen Edward hat sie aufgelöst, als sie erkennt, dass sie ihn niemals lieben wird, und nun sucht sie ihren Platz auf der Welt – und nach einem Lebenszeichen ihrer früheren Zofe Dinah, weil sie endlich versteht, dass das, was sie für mädchenhafte Schwärmerei gehalten hat, in Wirklichkeit die große, wahre Liebe war. Oder zumindest wahrhaftig genug, um Dinah jetzt wiederfinden zu wollen. Dinahs Spur verliert sich in Owls End, wo sie als Kindermädchen angestellt war, und Adelia folgt ihr mit detektivischem Gespür – doch es ist nicht Dinah, die sie dort findet, sondern Lügen, Geheimnisse, und Gracie.

Im Nanowrimo 2020 war es soweit: Ich schrieb, neben dem »Gefälschten Land«, auf das immerhin der Verlag wartete und das seine zweite Nanowrimo-Runde drehte, um endlich fertigzuwerden, »Owls End«. In der Zwischenzeit hatte ich fleißig recherchiert. Ich wusste, dass es keine Uhus in Großbritannien gibt und die größten heimischen Eulenarten die Schleier- und die Sumpfohreule sind. Ich hatte ein verlassenes Herrenhaus in Lincolnshire gefunden, das mir als Vorlage für das Haus Owls End geeignet schien und mich dazu brachte, die Geschichte in Lincolnshire anzusiedeln. Ich hatte das Foto eines vierjährigen Kindes, das im Jahr 1938 in Amerika spurlos verschwunden war und dessen Gesicht so gut zu dem kleinen Mädchen passte, das im Garten von Owls End auftaucht und Adelia drei Rätselfragen stellt. Ich hatte eine Intrige, ich hatte eine Wahnsinnige, die unterm Dach lebte, und als dann der Nano anfing, hatte ich eine schöne Zeit. Das Buch schrieb sich wie von selbst – die pseudo-viktorianische Icherzählung liegt mir einfach, und an keinem Tag musste ich um Plot bangen.

Auch bei meinen Mitzirklern kam das Buch an. Wir hatten sogar eine eigene kleine Gruppe, in der es nur um das Teetrinken ging und wir jedes Mal gefeiert haben, das in einem unserer Romane Tee ausgeschenkt wird – normalerweise fließt in meinen Büchern viel Alkohol, aber »Owls End« ist tatsächlich ein Teetrinkerbuch geworden, auch über den Teil aus dem Nano hinaus. Und so, wie es im »Puppenzimmer« Honigbrote in Violets Salon gab, wird in Owls End schöner, kräftiger Schwarztee getrunken, vorzugsweise bei Mrs. Donovan in der Küche. Mein Haus war mit Leben gefüllt, meine Figuren gingen mir gut von der Hand, und die Romantik – die war, zuminest für meine Verhältnisse, super romantisch.

Dann war der Nanowrimo rum, und ich tat das, was ich so oft nach dem Nano tue: Ich legte »Owls End« beiseite und schrieb etwas anderes. Das hatte logistische Gründe: Ich musste ja erst noch das »Gefälschte Land« fertigschreiben, und wo ich im Nano 100.000 Wörter raushauen und zwei Projekte parallel schreiben kann, fehlt mir im Rest des Jahres die Energie für so eine Tour de Force. Noch bis zum Sommer 2021 schrieb ich an meinen Fälschern, musste das Buch dann heftig überabeiten, dann noch mal überarbeiten, dann kam auch schon der Nanowrimo 2021, wo ich meine frisch mit dem PAN-Stipendium ausgezeichnete »Neunte Träne« ziemlich vor die wand schrieb, und all die zeit über lag »Owls End« auf eis, ausgerechnet mitten in einer ziemlich heißen Sexszene, die ich im Nano 2020 angefangen, aber nicht mehr zu Ende geschrieben hatte: Der langwierigste Liebesakt der Literaturgeschichte.

Erst 2022 schrieb ich wirklich weiter an dem Buch, brachte meine Sexszene zu Ende und kam noch ein, zwei Kapitel weiter – aber 2022 war kein gutes Jahr für mich und auch kein produktives, und neben »Wie Haut so kalt« war »Owls End« das einzige Projekt, an dem ich während der Zeit überhaupt arbeitete. Aber so viel, das wusste ich, fehlte gar nicht mehr. Während andere Bücher von mir immer dicker und dicker werden – so geschehen mit dem »Gefälschten Land«, dessen Rohfassung es auf am Ende rund achthundert Seiten brachte – war »Owls End« auf eine deutlich handlichere Länge ausgelegt, maximal vierhundert Normseiten, und zwei Drittel davon standen schon. Da ist der Point of No Return überschritten, da muss das Buch etwas werden, und immerhin hatte ich den Rest des Buches schon fertig geplottet im Kopf …

Da war nur ein Problem: Ich mochte diesen Plot nicht. Das Buch hatte eine Auflösung, nach der Adelia ins Feenreich gelangt, neunundneunzig Jahre dort bleibt, und wenn sie wieder rauskommt, befinden wir uns mitten in den 1990ern, und sie kann sich freuen, dass sich die Situation der Frauen deutlich gebessert hat und, auch wenn die Ehe für Alle noch ein paar Jahre hin ist, die Lage der Homosexuellen ebenfalls. Und ich wusste, als Leserin hätte ich mir diesen Schluss um die Ohren gehauen. Wenn ich einen viktorianischen Gaslichtroman lese, will ich nicht, dass der einen Zeitsprunf bis zur Jahrtausendwende macht und in meiner eigenen Zeit endet. Man kann innovativ sein, die Lesenden überraschen – aber man sollte sie nicht mit dem Vorschlaghammer vor den Kopf schlagen. Nichts ärgert mehr als ein ruinierter Schluss, und dieses Ende, das ahnte ich, würde mein Buch ruinieren.

Stattdessen nahm ich den Hammer, um mir selbst diesen Schluss aus dem Kopf zu schlagen, und nach etlichen Hin und Her fand ich eine andere Auflösung, die mir gefiel, auch wenn ich sie nicht ganz rund und befriedigend fand – aber das kann sich ja noch ergeben, wenn ich das Buch dann wirklich fertigschreibe. Was bald passieren sollte. Zu viele Bücher habe ich unmittelbar vor dem Schluss auf Eis gelegt und zwei Jahre nicht mehr angerührt: »Owls End« hatte gerade schon zwei Jahre Liegezeit hinter sich, da musste nicht noch mehr drauf kommen, und so habe ich bei der Planung für 2023 fest eingepreist, dass dieses Buch wirklich fertig werden soll und das gleich als erstes in diesem Jahr. Gute Vorsätze, und so, aber diesmal in die Tat umgesetzt.

Es gibt jedes Jahr zwei Monate, in denen ich wirklich viel schreibe: Im November, und im Januar. Im November, weil Nano ist, und im Januar, weil ich frisch und hochmotiviert in ein neues Schreibjahr starte. Und so hat sich auch in diesem Jahr das Schreiben erst einmal gut angelassen. Ich habe an meiner »Neunten Träne« weitergeschrieben, an »Wie Haut so kalt«, und jetzt bringe ich meine Eulen zu einem Ende. Mein Monatspensum habe ich schon im Kasten, ich habe Spaß, ich komme gut voran, steuere auf das dramatische Finale des Buches zu –

Und plötzlich klappt nichts mehr. Von einem Tag auf den anderen mag ich meinen Plot nicht mehr. Das Buch, auf das ich immer so uneingeschränkt stolz war, dieses hochmoderne Buch im Mäntelchen des klassischen Gaslichtromans: Plötzlich bricht mir das Buch unter den Händen weg. Erscheint mir das Buch völlig unspannend, wo es doch ein Nägelbeißer hatte werden sollen. Will mein geplantes Ende nicht mehr funktionieren. Selbst meine Hauptfigur, die selbstbestimmte, verletzliche Adelia, könnte ich plötzlich gegen die Wand schmeißen, sie erscheint mir so dumm, dass sie nicht versteht, was um sie vorgeht, wenn man sie nicht mit der Nase draufstößt, sie reagiert nur, statt zu agieren, und ich sitze da und denke, ich hab es verbaselt, auf den letzten drei Metern das Buch vor die Wand gefahren.

Da verstehe ich wieder, wieso bei mir so viele Bücher zu neunzig Prozent fertig in der Schublade verschwinden. Das ist ja kein Einzelfall jetzt mit »Owls End«. Das ist so ziemlich jedem Buch von mir mal so passiert. Aber ich will endlich mal aus meinen Fehlern lernen. Nicht den Kopf in den Sand stecken. Nicht das Buch für die nächsten Jahre auf Eis legen. Ehrlich, ich weiß doch jetzt schon, dass ich in zwei Jahren keine besseren Ideen haben werde als heute, ich werde mich genauso auf meinen Hintern setzen und das ganze noch mal neu plotten müssen – und dann kann ich das ebenso gut jetzt tun. Die Bücher von mir, die fertig werden mussten, weil ich einen Vertrag für sie hatte, die sind schließlich auch fertig geworden. Selbst das »Gefälschte Land« habe ich zum Stichtag abgeben können, nachdem es einmal um ein Jahr verschoben werden musste, weil ich zu krank zum arbeiten war. »Das gefälschte Herz«, »Die Spiegel von Kettlewood Hall« – Bücher, die auch nicht immer so geklappt haben, wie ich mir das gedacht hatte, und die trotzdem in der Zeit fertig geworden sind, und das gut.

Ich nehme mir jetzt eine Pause von ein paar Tagen. Lese noch mal alles, was ich habe, und dann schaue ich, was für einen Schluss ich dem Buch wirklich geben werde und welche Szenen ich vielleicht noch mal komplett neu machen muss. Wenn sich herausstellt, dass ich irgendwo jenseits der Mitte des Buches völlig falsch abgebogen bin, gehe ich noch mal dahin zurück und schreibe den ganzen Teil danach neu. Aber ich gebe nicht klein bei, und ich lege dieses Buch nicht in die Schublade. Diese Eulen werden enden. Und das noch in diesem Winter. Ich habe große Pläne für 2023. Die hatte ich in den letzten Jahren auch. Aber dieses Jahr will ich sie endlich einmal in die Tat umsetzen. Und mit »Owls End« fange ich an.

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