Nichts anzuziehen, oder: Scanner am Werk

Wer kennt es nicht, das Gefühl, vor einem vollen Kleiderschrank zu stehen und sich zu fühlen, als hätte man nichts anzuziehen? Ich. Mir ist das noch nie passiert. Mein Kleiderschrank ist voll, und ich greife nach irgendwas, Hauptsache einigermaßen sauber und, gegenwärtig besonders wichtig, warm genug. Draußen herrscht Winter, und wir beheizen gerade nur einzelne Zimmer, nicht das ganze Haus, weil unsere Gasrechnung durch die Decke gegangen ist. Ich friere hier vor mich hin. Aber zumindest vor dem Kleiderschrank muss ich nicht lange zögern, so schwer ich mich sonst auch mit Entscheidungen tun mag.

Aber im übertragenen Sinn geht mir das gerade genauso. Ich habe nichts zu schreiben. Und da ich mir vorgenommen habe, dieses Jahr wirklich jeden Tag mein Pensum zu schreiben, 1.370 Wörter oder mehr, bringt mich das gerade in die Bredouille. Ich habe »Owls End«, an dem ich die letzte Woche über gearbeitet habe, gerade für ein paar Tage beiseite gelegt, um mein Plotproblem zu lösen. Bis ich da etwas gefunden habe, muss ich also an etwas anderem schreiben. Und ich habe nichts, obwohl meine Liste der Bücher in Arbeit ebenso lang ist wie die Liste an Büchern, die erst noch geschrieben werden wollen.

Ich bin Multitasker. Seit vielen Jahren schreibe ich an mehreren Büchern parallel – und irgendwie wird die Liste der angefangenen Bücher immer länger, obwohl ich auch jedes Jahr etwas zu Ende schreibe. Es fällt mir schwer, mich auf eine Sache auf einmal zu konzentrieren. Selbst im Nanowrimo, wo ich meinen ganzen Tag dem Schreiben widme und sonst nichts anderes mache, schreibe ich zwei Bücher parallel. Singletasking liegt mir einfach nicht, ich brauche die Abwechslung – das ist auch einer der Gründe, warum ich so ungern unfertige Bücher verkaufe, die ich dann erst noch schreiben muss: Ich bin dann gezwungen, mich auf ein einzelnes Werk zu konzentrieren, bis das fertig ist, statt hin und her zu springen, wie ich es sonst tue.

So bin ich auch ins Jahr 2023 gestartet. Das Jahr ist erst einen knappen Monat alt, und ich habe schon an drei verschiedenen Büchern gearbeitet. In der ersten Woche habe ich fleißig an meiner »Neunten Träne« gearbeitet, bis ich da in zwei Szenen hängen geblieben bin, von denen ich noch nicht weiß, wie ich sie ausgestalten soll, und das Buch beiseitge gelegt habe. So ein Ritual, bei dem ein Magier den leibhaftigen Mond bezwingt, schreibt man eben nicht mal eben nebenbei, und wie Kamu, eigentlich sturzbetrunken, die gestohlene Karte zurückerobern soll, weiß ich noch nicht … Aber kein Problem, das nächste Buch stand ja schon bereit!

Und so ging es in der zweiten Woche, und sogar in der dritten, weiter mit »Wie Haut, so kalt«, bis da Varda vor Gericht steht und ich mich nicht mehr gerichtsfest genug fühlte, um daran weiterzuschreiben. Macht nichts: Schließlich soll »Owls End« ja bald fertig werden, also flugs das Thema gewechselt, auf ins victorianische Lincolnshire, die Feen warten … Bis mir da, vor zwei Tagen, buchstäblich der Plot um die Ohren geflogen ist und ich es, wie beschrieben, ein paar Tage ruhen lasse. Und nun steh ich da, irgendwas muss ich schreiben, und ich habe nichts. Gehe meine Liste durch, Titel für Titel, und bei jedem Buch kann ich nur sagen, warum ich daran gerade nicht schreiben will.

»Das Glaslabyrinth«? Ein tolles Buch, ich liebe es über alles, aber ich habe im Nanowrimo alles, was ich da an Plot hatte, verbraucht und an einer Stelle aufgehört, wo ich selbst nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. »Ein Lied aus Glas«? Das liegt seit Ende 2018 auf Eis, und ich muss bald mal die Entscheidung treffen, ob ich daran überhaupt noch weiterarbeiten sollte, eine der Hauptfiguren ist in meinen Augen doch arg problematisch – aber das will ich nicht gerade jetzt entscheiden müssen unter dem Druck, irgendwas raushauen zu müssen. »Die Traumstadt«? Ein absolutes Lieblingsbuch von mir. Ich schreibe seit 2016 daran, habe einen Berg an Text und noch eine Menge vor mir, aber ausgerechnet an der Stelle, wo ich vor anderthalb Jahren zu schreiben aufgehört habe, komme ich gerade nicht weiter. Auch da brauche ich mehr Zeit zum Plotten.

Und was ist mit »Lichtland«, an dem ich seit dem Nanowrimo 2015 nicht mehr geschrieben habe und das dieses Jahr endlich mal wieder drankommen soll? Na, das hebe ich mir gerade für den Nano auf. Nach 2007 und 2015 wäre es mal wieder dran, alle acht Jahre, das ist ein schöner Rhythmus, also nicht jetzt. »Tinte und Rauch« ruht auch schon seit 2018, soll auch endlich wieder etwas werden, aber da geht es auch um Feen im viktorianischen England, da will ich erst »Owls End« fertig haben, da beißt sich die Katze in den Schwanz …

Ein Buch nach dem anderen habe ich angesehen und eliminiert, bis praktisch nichts mehr übrig war. Die einen habe ich zu lange nicht mehr angerührt, die anderen sind noch zu früh in der Planungsphase, wieder auf andere habe ich zwar gerade Lust, wie die »Stadtkinder«, aber das Luxusproblem, dass sie fertig sind und ich nichts mehr an ihnen zu schreiben habe. Und am Ende blieb dann tatsächlich nur noch ein Buch übrig, an dem ich heute arbeiten kann. Immerhin, ein Buch. Das ist besser als keines. Und so schreibe ich, zumindest ein paar Tage lang, an Werk No. 4 in diesem Jahr: »Sturmtrinker«.

Wie so viele meiner Bücher hat »Sturmtrinker« seinen Anfang im Nanowrimo genommen, diesmal also 2021. Ich habe damals aber nur zweieinhalb Kapitel daran schreiben können, bevor ich es aus Kapazitätsgründen drangegeben habe: Neben dem Lektorat des »Gefälschten Landes« und der wegen des PAN-Stipendiums gesetzten »Neunten Träne« schaffte ich es nicht, den Doppelnano durchzuziehen. Kein Problem, sagte ich mir, der Plot läuft mir nicht weg, und nach dem Nano kann ich es immer noch in Ruhe weiterschreiben … So endete der Nano 2021, das Jahr 2022 kam und ging unproduktiv, und all die Zeit über habe ich meinen Sturmtrinker nicht angerührt – obwohl ich da noch mindestens zwei geplante Szenen in der Hinterhand hatte und noch ein bisschen Plot für später.

Später ist also jetzt. Ich habe erstmal wieder lesen müssen, was ich da im Nano – immerhin über ein Jahr her – so geschrieben habe und gleich wieder verstanden, warum das Buch in dem Jahr so viel mehr Fans hatte als die »Tränenjäger«: Mit letzteren war es ein zähes Ringen, während der »Sturmtrinker« sich, und wenn es nur für eine Woche war, von selbst geschrieben hat, zornig, romantisch, stürmisch im Wortsinn. Und dann stand ich mitten in einer Szene, die ich vor einem Jahr und zehn Wochen angefangen und nie beendet hatte – und war gleich wieder mittendrin. Da bin ich Profi. Wer so viele Bücher parallel schreibt, sie über Jahre in Schubladen steckt und dann nach ewigen Pausen weiterschreibt, der muss in der Lage sein, sich immer wieder neu auf eine Geschichte einzurichten und immer wieder reinzukommen. Und irgendwas muss ich ja können im Gegenzug dazu, dass ich nicht lang am Ball bleiben kann.

Ehrlich, ich bewundere Autor:innen, die sich ganz und gar und mit Haut und Haaren in ein Projekt fallen lassen können und das durchziehen, bis es fertig ist. Ich kann das nur in den seltensten Fällen. Ich bin zu sprunghaft im Kopf, zu unstet, mir kommen die Ideen kreuz und quer, mal an diesem Buch und mal an jenem und dann wieder für etwas völlig neues, wie die Plotidee, die ich vor zwei Wochen geträumt habe und die ich mal irgendwo festhalten sollte, bevor sie wieder ganz verdunstet ist. In meinem Schädel ist ein ganzer Reigen an Hauptfiguren, die alle mal ans Ruder wollen und dann wieder nicht, wie eine Katze, die sich nicht entscheiden kann, ob sie nun rein will oder raus. Ich kann nicht lang am Ball bleiben. Und damit habe ich mich abgefunden – vorausgesetzt, ich mache überhaupt etwas.

Jetzt gibt es also ein paar Tage lang Grigori, den Sturmtrinker. Dann habe ich hoffentlich das Eulenproblem gelöst und mache damit weiter. Bis die fertig sind, hat sich dann auch – ebenfalls hoffentlich – entschieden, ob ich dieses Jahr noch ein Kinderbuch schreibe oder meine »Gehörnte Prinzessin«, die ja schon fertig ist, das Rennen macht. Und für ein anderes Projekt, in Rohfassung fertig, aber überarbeitungsbedürftig, halte ich mir in der Hinterhand ebenfalls Kapazitäten frei, sollte sich ein Verlag dafür begeistern können. Ich bin flexibel und auf alles eingerichtet. Nur Leerlauf – den soll es bis auf Weiteres nicht mehr geben bei mir. Dafür habe ich ja wahrlich genug Projekte in der Pipeline. Wenn ich mich nur für eines entscheiden kann!

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