»Ich hasse Bücher!« III

Als wir vor nunmehr acht Jahren in unser Haus gezogen sind, haben uns unsere Möbelpacker verflucht. Hochgerechnet zehntausend Bücher mussten mit, eingepackt in Bücherwannen und stabilen Pappkartons, und auch wenn wir dem Umzugsunternehmen gesagt hatten, dass wir viele Bücher besitzten, ja, wirklich viele, hatten die sich darunter eher etwas um die fünfhundert Bücher vorgstellt als das Zwanzigfache davon. Ich liebe meine Bücher. Ich kann mich nicht von ihnen trennen, ich mag nicht aussortieren, ich habe sie gern um mich herum, und ich kann auch nicht damit aufhören, mir neue Bücher zu kaufen. Zumindest, solange noch Regalplatz da ist, und was den angeht, haben wir uns extra ein großes Haus gekauft, damit Platz für Bücher da ist.

Wir haben so viele Bücher im Esszimmer, dass wir es als Bibliothek bezeichnen. Wir haben Bücher im Wohnzimmer und Bücher im Flur. In meinem Arbeitszimmer ist ein großes Bücherregal, mehr Regale stehen im Gästezimmer, und in meinem Schlafzimmer habe ich nicht nur ein Regal direkt neben dem Bett, sondern auch noch ein kleines Wandregal auf der anderen Seite, Bücherstapel auf dem Fußboden neben dem Bett, und mindestens zwei, drei Bücher liegen im Bett neben meinem Kopfkissen. Ich lebe, ich atme Bücher. Ich liebe sie wirklich. Nur eines tue ich nur noch sehr selten: Sie auch lesen.

Ich bin als Bücherwurm aufgewachsen. Als Kind und Jugendliche war ich mehrmals in der Woche in der Stadtbücherei, nicht nur, weil ich dort als Schülerhilfskraft gearbeitet habe, sondern vor allem, um mich mit neuem Lesefutter einzudecken. Zu meinen besten Zeiten habe ich drei Bücher am Tag gelesen. Jugendbücher, Fantasy, Krimis, nichts war vor mir sicher, und ich habe mich durch die Bücherei gefressen wie die kleine Raupe Nimmersatt, ich habe mein Taschengeld in die Buchhandlung getragen, und ich habe gelesen, gelesen, gelesen.

Dabei war das nicht immer so. Als ich in die Schule gekommen bin, hat es eine Weile gedauert, bis ich von der Leseanfängerin auch zur Leserin geworden bin. Es war anstrengend, es fiel mir schwer, bei der Sache zu bleiben – und die Geschichten für Erstleser, die es gab, waren die Arbeit nicht wirklich wert. Das waren alles nette Sachen, aber mein Verstand verlangte nach größeren, schwereren Geschichten, als mir die Bücher mit den großen, freundlichen Buchstaben anbieten wollten. Was mir meine Eltern vorlasen, war so viel fesselnder, so viel spannender als »Alle Tiere lieben Bob«. Ich las, aber nicht gerne, nicht lang, und nicht viel. Ich liebte Bücher, ich liebte Geschichten. Nur das Selbstlesen, das war nicht meines.

Erst, als ich mir von meinem Taschengeld und mit elterlichem Zuschuss das Buch »Der kleine Vampir« kaufte und das ganz allein lesen wollte, platzte der Knoten. Ich las langsam los, aber ich fraß mich fest, und nach drei Tagen hatte ich das ganze Buch ausgelesen. Und von da an war ich nicht mehr zu halten. Da war ich angefixt. Ich las, was im Haus war, und im Haus war viel – und wo das Haus nicht mehr ausreichte, kam die Bücherei ins Spiel. Es sollte noch lange dauern, bis ich »Bibliothekarin« als offiziellen Berufswunsch hatte – »Schriftstellerin« kam da deutlich früher – aber das Lesen und ich waren unzertrennlich.

Ich las alles. Ich las Enid Blyton, und auch wenn ich verstand, dass das keine hohe Literatur war, fand ich es spannend. Ich las »Drei Fragezeichen«, nur kein »TKKG«, weil ich lieber gar keine weiblichen Figuren in meinen Büchern haben wollte als so ein Klischeemädchen wie Gaby. Ich las rauf und runter. Ich fing an, in der Schülerbücherei mitzuarbeiten und dann in der Stadtbücherei, und als ich mein Abitur in der Tasche hatte, zog ich nach Köln, um tatsächlich Bibliothekarin zu werden. Ich setzte mein Geld in Bücher um, neu und antquarisch, und las in der U-Bahn, die immer dann, wenn es spannend wurde, im Tunnel stehenblieb, um mir mehr Zeit zum Lesen zu bieten. Ich las Terry Pratchett in der S-Bahn und musste so laut lachen, dass mich alles anschaute, und ich las, ebenfalls in der Bahn, »Spuk im Hill House« so spät am Abend, dass ich mich nicht traute, an meiner Station auszusteigen, weil ich dort durch eine dunkle Unterführung gemusst hätte, und lieber einen Umweg von einer Dreiviertelstunde in Kauf nahm, um im Hellen in meinen Bus steigen zu können.

Ich versank in Geschichten. Ich las alles, was an Fantasy auf den Markt kam, immer noch viele Krimis, und englische Bücher im Original. Ich kam von einer Interrailtour nach Großbritannien mit einem Rucksack zurück, in dem fast nur noch Bücher waren, die ein entsprechendes Gewicht mitbrachten, so dass ich richtiggehend Muskeln entwickelte. Mit meinen Freundinnen spielte ich »Hamlet«, schrieb eine bibliothekarische Fantasy, und sprach über Bücher. Bücher Bücher Bücher, das waren meine Tage, und ich liebte es.

Als ich im Anschluss an mein Studium keine Stelle als Bibliothekarin fand, war mich klar, dass ich den Büchern treu bleiben möchte, und ich begann eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Sechs Tage die Woche mit dem arbeiten, was ich am allermeisten liebte, das hätte doch nur gutgehen können – und stattdessen passierte das Gegenteil. Ich hörte auf zu Lesen. Und ich konnte ziemlich genau festmachen, woran es lag. Plötzlich war Lesen Pflicht. Um Bücher wirklich empfehlen zu können, musste man sie auch gelesen haben – und da stand ich nun. Was las ich am liebsten? Fantasy. Was führte mein Ausbildungsbetrieb nicht? Fantasy. Es gab Leseexmeplare für Krimis und Thriller, für Belletristik, für historische Romane, und sie alle wollten gelesen werden – und ich machte mich an die Arbeit, aber es war genau das.

Ich las nicht mehr für mich selbst, ich las für andere, und diese anderen dankten es mir nicht. Wenn ich mich ohne große Leidenschaft durch ein Leseex durchgefressen hatte, sprang auch im Verkaufsgespräch der Funke nicht richtig über. Ich war gut darin, Fachliteratur zu empfehlen, ich konnte richtig gut recherchieren, ich fand Bücher, von denen die Kundinnen nur noch wussten, dass eine Frau auf dem Cover abgebildet war – aber ich war schlecht darin, Romane zu verkaufen. Ich konnte einfach nicht so tun, als wäre das, was ich da verkaufen wollte, der heißeste Scheiß, als hätten Kunde und ich genau den gleichen Buchgeschmack, und so großen Spaß mir tatsächlich der Beruf des Buchhändlers machte von Rechnungswesen bis zur Remission, so wenig genoss ich noch das Lesen.

Als Buchhändler:in liest man auch in der Freizeit für die Arbeit – nicht, dass diese Stunden irgendwie vergütet würden! – und so blieb mir für die Bücher, die ich eigentlich gern hätte lesen wollen, keine Zeit mehr. Aber was mich am meisten nervte, war die Schnelllebigkeit. Die Buchhandlung ist keine Stadtbücherei, in der die einmal angeschafften Bücher auf Jahre stehenbleiben. Was man in einer Buchhandlung in allererster Linie verkauft, sind Neuerscheinungen. Die Bücher, die ich mir mühsam erarbeitet hatte, waren nach drei, vier Monaten veraltet und interessierten im Tagesgeschäft nicht mehr – ich fühlte mich, als müsste ich lesen, lesen, lesen und wieder vergessen. Es frustrierte mich, ich hätte gern ein Buch, das mir gefallen hat, auch noch ein Jahr später empfehlen können, und versuchte, einer Leserin, die nach einem intelligenten Psychothriller fragte, Dostojewskis »Schuld und Sühne« zu verkaufen, aber meine Versuche, und mein Buchgeschmack, gingen einfach an dem der Kundschaft vorbei.

Das ganze eskalierte, als ich vor der IHK meine Buchhandelsfachprüfung ablegte. Ich bekam eine Liste mit Büchern – Klassikern und aktuellen Bestsellern – von denen ich drei pro Kategorie (Kinderbuch, Roman deutschsprachig, Roman international) zu lesen hatte, und das auf Knopfdruck und innerhalb von zwei, drei Wochen. So biss ich die Zähne zusammen und arbeitete mich durch »Alberta empfängt einen Liebhaber«, »Arnes Nachlass«, »Germninal« und »Das Wüten der ganzen Welt«, bis ich keine Bücher mehr sehen konnte, bis mir die Buchstaben zu den Ohren rauskamen – ich schaffte meine Leseliste, ich legte eine Eins A Prüfung hin und wurde Jahrgangbester mit einem beherrzten Verriss von Vanderbeeckes  »Alberta« im Vergleich zum wenig eingänglichen, aber lohnenden »Arne», doch das ist es nicht, was den Buchhändleralltag ausmacht.

Ich konnte Bücher verreißen, aber ein Verriss verkauft nichts. Und trotz einer Eins als Gesamtnote musste ich verstehen, dass ich als Buchhändler eine Fehlbesetzung bin. Ich kann nicht verkaufen, namentlich keine Romane, und ich konnte in dem Beruf auch nie Fuß fassen. Vieles, was ich heute als Freiberufler brauche, habe ich in der Ausbildung gelernt – Buchführung, Kalkulation, ich kenne das Buch- und Verlagswesen richtig gut und profitiere davon auch als Autor immer noch sehr. Aber auf der negativen Seite habe ich das Lesen verlernt, und das betrachte ich immer noch als einen herben Verlust.

Ich liebe Bücher noch immer immer. Ich mag schön gemachte Bücher, ich habe ein Herz für tolle Einbände, ich mag Farbschnitt und Illustrationen, ich freue mich, wenn Arbeit nicht nur in den Inhalt, sondern auch die Aufmachung eines Buches fließt, und ich kaufe kaum weniger Bücher als früher. Aber ich lese kaum noch. Ich fange ein Buch an, es fesselt mich nicht sofort, ich lege es beiseite. Oder mich stört der Stil, ich finde die Figuren unglaubwürdig – es gibt so viele Gründe, ein Buch beiseitezulegen, und ich bin ungnädig, ich gebe ihm eine Chance von ein paar Seiten, und wenn es mich dann nicht hat, dann war es das erstmal. Ich bin ein ungnädiger Leser. Aber ich habe einfach so viele Bücher, die alle um meine Aufmerksamkeit konkurrieren, dass ich denke, ich verpasse ein besseres Buch, wenn ich meine Zeit an das Schlechtere vergeude.

Einige Jahre lang habe ich ein Buchblog geführt, in dem ich alles, was ich gelesen habe, rezensiert habe. Das hat mich motiviert, Bücher auch bis zum Ende zu lesen, selbst wenn sie mich nicht überzeugen konnten – ein beherzter Verriss macht großen Spaß und entschädigt auch für eine Enttäuschung beim Lesen. Aber als ich 2013 mein erstes Buch veröffentlichte, gab ich das Rezensieren dran. Ich wollte nicht dastehen als jemand, der die Konkurrenz schlecht macht, und so bekam ich kalte Füße und gab das Blog auf. Es stand noch einige Jahre lang online, bis die Blogsoftware nicht mehr richtig interpretiert wurde, und die Ruine befindet sich immer noch auf meinem Server – und jetzt juckt es mich in den Fingern, das Blog neu aufleben zu lassen. Allein, um einen Grund zu haben, Bücher wieder bis zum Ende zu lesen.

Was das Schlechtmachen der Konkurrenz angeht, muss ich mir wahrscheinlich keine Sorgen machen. Die Bücher, die ich da rezensiert habe, waren überwiegend englischsprachig, viele davon nie auf Deutsch erschienen, nichts, mit dem meine eigenen Veröffentlichungen konkurrieren würden – das waren oft keine aktuellen Titel, keine Bestseller, sondern Schätzchen aus der Stadtbücherei, alte Krimis aus meinem persönlichen Bestand, oder Bücher, die ich mir gekauft hatte. Und so würde ich auch weitermachen wollen – ich will keine Rezensionsexemplare, ich will keinen Interessenkonflikt, und ich habe nicht vor, Bücher befreundeter Autor:innen zu verreißen – wenn mir da etwas nicht gefällt, schweige ich drüber, und wenn ich begeistert bin, lege ich die Karten auf den Tisch, dass es sich um ein Buch von Freund:innen handelt.

Aber das Lesen fehlt mir. Das Versinken in fremden Geschichten, das Miträtseln und Mitfiebern, der Spaß und die Spannung – ich habe jedes Jahr die guten Vorsätze, wieder mehr zu lesen und tu es dann doch nicht, nicht in dem Maße jedenfalls, wie ich mich das vorgenommen habe. Und wenn ich ehrlich bin, ist es für mich noch intensiver, eine Geschichte selbst zu schreiben, als sie zu lesen – das eine konkurriert mit dem anderen, und dann siegt im Zweifelsfall das Schreiben. Trotzdem, ich will es wieder wagen. Ich habe mir ein Lesetagebuch gekauft, in das ich ab Januar all die tollen Bücher, die ich zu lesen gedenke, eintragen werde, und nachdem ich 2023 vom Nichtschreiber wieder zum Schreiber geworden bin, werde ich, hoffe ich, 2024 vom Nichtleser wieder zum Leser – und, zumindest ist das der Plan, auch wieder unter die Buchblogger gehe.

Mein Stapel Ungelesener Bücher reicht bis zum Mond und zurück. Groß genug ist die Auswahl allemal. Und ich freue mich schon darauf, was ich daraus hervorzaubern werde.

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