Verloren – gefunden

Vor einem Jahr hatte ich einen gewonnen Nanowrimo in der Tasche und konnte mich nicht darüber freuen. Dabei hätte ich allen Grund gehabt, stolz auf mich zu sein: Nicht nur hatte ich in einem Monat knapp über 50.000 Wörter an meiner »Neunten Träne« geschrieben – ich hatte parallel dazu im gleichen Monat auch noch das gesamte Lektorat des »Gefälschten Landes« absolviert. Es hatte mich kräftemäßig in die Knie gezwungen, das schon, meine Energie war noch nie überragend, aber ich hatte trotzdem all das bewältigt, ohne mich davon kleinkriegen zu lassen … Und doch war ich am Boden. Ich hatte den Nanowrimo gewonnen, aber etwas für mich viel, viel wichtigeres verloren: Die Kunst zu schreiben. Und ich war überzeugt, sie so schnell nicht wiedergewinnen zu können.

Den Schuldigen hatte ich schnell im Verdacht. Im gleichen Herbst war die Medikation für meine Schizophrenie umgestellt worden, von dem Mittel, das mich zehn Jahre lang aus dem Biorhythmus rausgekickt hatte zu einem, mit dem ich einen regelten, fast schon normalen Tagesablauf fahren konnte: Nun fürchtete ich, für diese Normalität den für mich höchsten Preis gezahlt zu haben. Meine Phantasie war versiegt. Ich hatte keine Ideen mehr. Und wo sonst im Nanowrimo ein Einfall den nächsten jagt, schindete ich einen Monat lang nur Wörter auf Basis von einem groben Plotkonstrukt, das ich Monate vorher geplottet hatte.

Die Nano-Freude wollte sich nicht einstellen. Ich kämpfte jeden Tag, ich biss mich durch, ich wollte nicht auch noch den Nano verlieren, nachdem schon der Spaß weg war … aber als der Monat rum war, saß ich da und wusste, ich habe es verlernt. Ich bin keine Autorin mehr. Ich weiß nicht mehr, wie man schreibt. Es war nicht nur im Schriftstellerischen – meine Träume, aus denen ich sonst Ideen um Ideen gezogen hatte, waren versiegt. Ich schlief schlecht, unruhig, wachte andauernd auf, und hatte hinterher nicht mal mehr das Gefühl, überhaupt etwas geträumt zu haben. Das unstete Autorenleben, in dem ich die Nacht zum Tag gemacht hatte und die irrwitzigsten Geschichten erfunden, war vorbei, und das, was ich stattdessen hatte, war … nichts. Ein Alltag, in dem ich funktionierte, aber nicht mehr wusste, wie das gehen sollte, schreiben.

Ich überlegte, darüber zu bloggen, und ließ es sein. Die Veröffentlichung des »Gefälschten Landes« stand kurz bevor, ich hoffte auf einen Anschlussvertrag, und ich wollte nicht, dass irgendjemand erfahren sollte, dass ich keine Autorin mehr war, sondern nur ein Hochstapler. Noch dazu hatte ich gerade für meine »Neunte Träne« das PAN-Stipendium gewonnen, und ausgerechnet dann das Schreiben verlernt zu haben … nein, niemand durfte das wissen. Den Dezember über leckte ich mir meine Wunden und verzichtete auch nur auf den Versuch zu schreiben. Im Januar wagte ich, neues Jahr, neues Glück, den Neuanfang, schrieb weite Teile dessen, was an der »Neunten Träne« im Nano entstanden war, noch mal neu, und kaute doch nur auf meinen alten Fehlern herum, es wurde nicht besser davon, nur länger. Ich hielt durch bis Februar, als ich in eine Spirale aus Angst stürzte.

Danach ging gar nichts mehr. Nach ein paar Wochen schaffte ich es zumindest, wieder sporadisch ein Minimalpensum zu schreiben, aber es ging nicht gut und bekräftigte mich darin, dass ich wirklich meine Kunst verloren hatte. Das Jahr schleppte sich dahin, ließ mich in dem Wunsch, die Welt anzuhalten und auszusteigen, und meiner verlorenen Schriftstellerei nachtrauern – und dabei kam ich nicht auf das Naheliegende. Das Kind hat einen Namen: Man nennt es Depression. Es ist nicht so, dass ich vorher noch nie eine hatte, im Gegenteil – gerade eben erst, im Sommer 2020, hatte mich eine so sehr aus der Bahn geworfen, dass der Erscheinungstermin des »Gefälschten Landes« auf 2022 verschoben werden musste. Aber dadurch, dass ich die Schuld in der Medikamentenumstellung suchte, übersah ich das, was sonst naheliegend gewesen wäre.

Und so kam der Spätsommer und die Zeit, im Tintenzirkel den Nanowrimo auszurufen. Denn auch wenn der erst im November stattfindet, ist er doch unsere liebste Jahreszeit, und weil nichts über eine gute Vorbereitung geht, fangen wir immer schon Ende August/Anfang September mit dem Nanowrimo-Aufwärmtrainnig an. Und obwohl mir wirklich nicht nach Schreiben zumute war, war ich von Anfang an aktiv mit dabei – schließlich hatte ich das Board und die Gruppe eingerichtet, musste die Mitglieder dafür freischalten, und ich wollte mir beweisen, dass eben doch nicht alles verloren ist – oder umgekehrt dafür sorgen, dass wenn dieser Nano mein letzter sein sollte, ich zumindest so viel davon haben wollte wie irgendwie möglich.

In jedem Jahr seit 2011 versuche ich, zwei Nanos zu gewinnen, das heißt, an zwei Büchern jeweils 50.000 Wörter zu schreiben. Ich gewinne nicht immer beide, und manchmal muss ich relativ früh den zweiten Nano fallenlassen, weil das Leben vorgeht, wie letztes Jahr, als mein Neraval-Lektorat eintraf und ich selbst für einen einzigen Nano volle Kraft brauchte. Aber zumindest versuche ich es zweigleisig und schreibe am 1. November an zwei Romanen. Auch dieses Jahr. Ich hatte zwar seit Jahresbeginn praktisch nichts geschrieben, ich hatte keine zündenden Ideen, die ich unbedingt schreiben wollte, aber ich hatte nicht vor, kleinbeizugeben. Ich wollte meine verschüttete Phantasie wachschütteln. Und das hieß: Keine Rebellenprojekte, keine vor Jahren angefangenen Bücher weiterschreiben und dabei auf Plot von vor ein paar Jahren zurückgreifen können, sondern etwas Neues, etwas, das garantiert auf Ideen aus 2022 angewiesen war.

Natürlich ging dieser Vorsatz gleich zumindest für eines meiner beiden Projekte wieder über Bord, als ich mich für meine elf Jahre alte »Gehörnte Prinzessin« entschied – aber da hatte ich Plot nur für die ersten drei Szenen und darüber hinaus nichts, und wenn ich mehr als drei neugeschriebene Szenen haben wollte, würde ich auf meine Einfallskraft zurückgreifen müssen. Aber dafür sollte Projekt No. 2 dann wirklich brandneu sein, und das wurde es dann auch. Die Idee kam mir im Urlaub, als ich beschloss, zwei meiner liebsten Motive, Glas und Labyrinthe, in einem Dreampunk-Setting zusammenzuwerfen, und ein paar kostbare Tage lang war es genau das, was ich schreiben wollte. Dann kam der Nano näher, und mit jeder verstreichenden Woche verstand ich mehr, dass ich eine entscheidende Sache, über die Anfangsidee hinaus, nicht hatte: Einen Plot. Der Nano stand vor der Tür, und ich wollte nur noch weglaufen.

Es war nicht so, dass ich gar nichts an der Hand gehabt hätte – aber vier Figuren und ein Aufhänger allein schreiben noch kein Buch. Von einer der mutmaßlichen Hauptfiguren kannte ich nur den Namen, bei einer anderen konnte ich mich nicht entscheiden, ob sie ein Junge oder Mädchen werden sollte, beim Dritten wusste ich nichts über die Motivation, und alles, was ich wirklich hatte, war Malek, der von einem Labyrinth aus Glas träumt, das aber wirklich ist und Landstriche, einschließlich ganzer Dörfer überwuchert, und dessen Samen in Maleks Gehirn sitzt – und weil Malek schizophren ist, er nicht mehr sagen kann, was jetzt Traum, Wahn und Wirklichkeit ist … Tief in meinem Hinterkopf saß ein Plot dafür, aber sobald ich auch nur versuchte, meine Pläne in Worte zu fassen, klang das Ergebnis so wirr, dass unmöglich ein richtig gutes Buch dabei herauskommen konnte.

Ich versuchte es mit drei Schritten zurück, in der Hoffnung, dass Abstand helfen könnte, und mit drei Schritten vorwärts, damit intensives Plotten mich meiner Geschichte näherbringen sollte, und weder das eine noch das andere war von Erfolg gekrönt. Und überhaupt, ein Buch schreiben, das Schizophrenie thematisiert, und dann auch noch im Nano – wollte ich das wirklich? Aber tatsächlich wurde dieser Punkt meine treibende Motivation, das Projekt durchzuziehen. Ich bin selbst von einer Form von Schizophrenie betroffen, und es hat mich immer gestört, wie diese Krankheit in Film und Buch dargestellt wird – und dass sie einem üblicherweise in Form von bedauernswerten Gewaltverbrechern begegnet, die keine Verantwortung für ihr Handeln tragen können, aber trotzdem zur Strecke gebracht werden müssen, oder, weil sie ja nicht schuldfähig sind und man sie daher nicht guten Gewissens bestrafen kann, durch eine obskure Art von Schicksal gerichtet werden, wie August in »Wasser für die Elefanten« (erwähnte ich, dass ich mich über dieses Buch extrem geärgert habe)?

Was mir fehlte, war ein schizophrener Perspektivträger, der medikamentös gut eingestellt ist und eben nicht ständig halluziniert, mit seinen unsichtbaren Freunden spricht oder andauernd gewalttätig wird – jemand, der durch die Krankheit eingeschränkt ist, aber eben keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. So nahm Malek Gestalt an auf Basis meiner eigenen Erfahrungen, wurde zu jemandem, der den eigenen Sinnen misstraut, ohne dass sie ihm einen Grund dazu geben würden: Wenn er nicht gerade von einer akuten Psychose betroffen ist, ist er weder in seiner Wahrnehmung, noch seiner Entscheidungsfindung eingeschränkt, doch die Diagnose »Schizophrenie« hängt drohend über ihm und lässt ihn mit dem Schlimmsten rechnen.

Malek ist kein Abziehbild von mir: Er ist deutlich jünger, als ich war, als sich meine Schizophrenie das erste Mal manifestierte, und hin und hergerissen zwischen seinen geschiedenen Eltern, die in seiner Behandlung nicht an einem Strang ziehen, er steckt mitten in der Pubertät, ist unsicher über seine Sexualität, und versprach, ein interessanter, runder Charakter zu werden – aber ein Charakter allein macht noch kein Buch, und mein Plot blieb wirr und unklar. Noch in der Nacht zum 1. November, als wir Naniten uns auf dem Tintenzirkel trafen, um gemeinsam reinzufeiern, und ich versuchte, von meinem geplanten Roman zu erzählen, klang das so konfus, das ich drauf und dran stand, die Brocken hinzuschmeißen und doch noch etwas anderes zu schreiben. Und startete dann, sicher war sicher, erst einmal mit einer Szene an der »Gehörnten Prinzessin«, für die ich neu schrieb, was ich schon mal vor elf Jahren zu Papier gebracht hatte. Nicht der beste Start.

Aber dann! Dann schrieb ich einfach drauf los. Ich hatte keinen Plot, ich wusste immer noch nicht, was es mit dem ominösen Dr. Breda auf sich hatte, der sich mir ein paar Tage zuvor vorgestellt hatte – aber ich hatte eine erste Szene im Kopf, in der Malek, im Traum, das Labyrinth betritt. Und ich schrieb sie. Schnipselte Teile davon im Tintenzirkel und wurde für die Atmosphäre gelobt. Schrieb weiter, schrieb mehr, bekam neue Ideen – ich hatte mir vorgenommen, an jedem Tag des Monats mein Pensum zu schreiben, und ich tat es, zog es durch, hangelte mich an den groben Eckpunkten meines Plottes entlang – und es klappte. Ich recycelte keine alten Ideen, ich schrieb etwas, das wenige Wochen zuvor noch völlig undenkbar gewesen wäre, und ich schrieb es gut. Meine Figuren erwachten zum Leben. Und ich tat es auch.

Natürlich, ich verbrachte auch die übliche Zeit damit, an mir und meinem Buch zu zweifeln. Fand das »Glaslabyrinth« jetzt nicht so stark wie die »Stadtkinder«. Aber wirklich, das ist mit das Beste, was ich je geschrieben habe, es kann nicht alles auf dem Niveau sein, und mein »Glaslabyrinth« hatte seine Momente, und es wurden immer mehr davon. Malek, von dem ich erst fürchtete, er könnte zu generisch daherkommen, zu ähnlich sein wie andere Figuren von mir, wurde immer greifbarer, immer mehr er selbst. Das Glaslabyrinth wurde ein im Wortsinn schillernder Schauplatz, erschreckend und vielseitig. Die Nebenfiguren, zugegeben, blieben noch ein wenig blass – das Buch ist die Malek-Show, und Malek ist stark genug, es zu tragen.

Ausgerechnet bei der Darstellung seiner Schizophrenie bekam ich dann die Manschetten – bin ich mit meiner Variante der Krankheit schizophren genug, um darüber schreiben zu dürfen? Bringe ich das so rüber, dass es glaubwürdig ist, nicht zu klischeehaft, medizinisch fundiert? Ich schrieb Maleks Schizophrenie so, wie ich meine eigene erlebte, mit langen Phasen der Schlaflosigkeit, aus denen dann Psychosen hervorgehen, während derer Maleks Wahrnehmung getrübt ist und er – und seine Umwelt – unter Gewaltausbrüchen leidet: Ich wollte nichts beschönigen, aber auch nichts dramatisieren, und ich fühlte mich sehr verwundbar, während ich das schrieb, aber ich wurde mir immer sicherer, das richtige zu tun. Meine Schizophrenie geht nicht weg, indem ich sie einem fiktiven Charakter anhänge. Sie wird noch nicht einmal besser davon. Aber es hilft mir, andere sehen zu lassen, wie es in mir aussieht. Und am Ende war das »Glaslabyrinth« gar nicht mehr so viel schlechter als die Stadtkinder. Es war anders, sehr anders, aber das sollte es ja auch sein. Ich will nicht zweimal das gleiche Buch nacheinander schreiben.

Das Spiel mit den verschiedenen Traumebenen, bei denen nicht einmal Malek mehr sagen kann, ob er wach ist oder träumt, funktionierte ganz wunderbar. Andere Teile meines Plottes kooperierten hingegen nicht so gut. Jonka, Jevan und Gilit, die als Hauptfiguren angelegt waren, bei denen ich sogar überlegt hatte, ihnen  eigene Perspektiven zu geben, traten zwar auf, aber ihre Rollen blieben klein. Der nebulöse Dr. Breda wurde um so nebulöser, je oft er auftrat, und dann war da noch ein Dr. Holkwin, den ich gar nicht einordnen konnte, der aber darauf bestand, in wechselnden Rollen immer wieder Maleks Pläne zu durchkreuzen. Holkwin und Breda hängen zusammen, nur wie? Jetzt, wo der Nano rum ist, habe ich keine Ahnung. Aber das ist normal. Das liegt nicht an meinen Tabletten. Das liegt nur daran, dass ich ohne Plot und Plan in einem Monat knapp sechzigtausend Wörter geschrieben habe und damit alles aufgebraucht, was ich an Ideen für das Buch hatte. Ich lasse es jetzt ein paar Wochen ruhen. Es erholt sich schon noch. Ich bekomme neue Ideen dafür. Irgendwann. Bald.

Aber sie ist zurück. Meine Phantasie. Meine Gabe. Meine Lust zu fabulieren, und meine Fähigkeit, aus meinen Ideen, meinen Träumen, etwas zu machen. Ich muss nicht um mein Talent trauern. Ich bin kein Hochstapler. Ich bin immer noch Autorin. Ich war es die ganze Zeit über. Und ich werde es immer sein. Allen Zweifeln zum Trotz. Ich habe mich wiedergefunden.

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