Zuviel, zuviel, zuviel

Wenn es nach mir ginge, könnte jeder Tag nochmal sechs Stunden mehr haben, und die würde ich zum Schlafen verwenden. Ich geb es ja nur ungern zu, aber ich habe mich übernommen, und das merke ich gerade aufs Schmerzlichste. Damit meine ich nicht meine Versuche, die Fitness zu steigern – auch wenn ich am Sonntag bei meinem ersten Kurs schon während der ersten Viertelstunde Aerobic kollabiert bin und mit puterrotem Kopf auf dem Rücken endete, pumpend wie ein Maikäfer – auch wenn das natürlich bei meinem Problem mitmischt, denn auch das Workout kostet Zeit. Vor allem aber habe ich mit den Resultaten einer schriftstellerischen Fehlentscheidung zu kämpfen, und daß es noch früh im Jahr ist, macht das nicht besser.

Fakt ist, ich hätte niemals ein Jahresziel von 500.000 Wörtern wählen dürfen. Ich hätte auf die warnenden Stimmen hören sollen und auf diejenigen meiner Mitstreiter vom letzten Jahr, die im Vergleich zu 2010 ihr Ziel reduziert haben, weil das, was sie in dem Jahr geschrieben haben, ja auch noch überarbeitet werden muß. Aber nein, die kleine Maja war ja der Ansicht, daß sie eine Herausforderung braucht, und das Überarbeiten läßt sich doch bequem nachmittags beim Fernsehen erledigen… Das habe ich nun davon. Es ist zuviel, und meine Kapazitäten, zeitlich, physisch und geistig, reichen hinten und vorne nicht.

Nehmen wir nur mal das Überarbeiten: Das habe ich ganz grandios unterschätzt. Geigenzauber hat zwanzig Kapitel – da kann ich nicht mal eben drei an einem Nachmittag machen, neben den Gerichtsshows, sondern muß ganz konzentriert zur Sache gehen, bestenfalls beim Radiohören, und brauche für ein Kapitel gut zwei Stunden – und dann ist der Akku auch erst mal alle und ich finde keine Fehler mehr, selbst wenn ich danach suche. Außerdem muß ich meine Anmerkungen abgleichen mit denen meiner wunderbaren Betaleserinnen…

Das Problem ist, ich stehe heftig unter Zeitdruck – im März ist die Buchmesse in Leipzig, da soll das Werk in Bestform präsentiert werden, und es reicht nicht, zwei Tage vorher fertig zu sein – die Agentur will schließlich auch noch mal in Ruhe lesen und Verbesserungen vorschlagen dürfen, wir sind alle daran interessiert, das Buch zu verkaufen und nicht zu verbrennen. Also, spätestens nächste Woche Montag muß das fertige Buch in München liegen, da führt kein Weg drum herum. Muß ich dabei sagen, daß erst acht Kapitel fertig überarbeitet sind?

Dann das Schreiben. Auch das geht nicht so nebenbei. Für den Februar habe ich ein Monatsziel von etwas über 41.000 Wörtern, und weil der Februar so wenig Tage hat, gibt das ein Tagespensum von an die anderthalb tausend Wörtern. Ich muß gut zwei Stunden rechnen, um das runterzuschreiben, und das gilt auch nur dann, wenn ich schon weiß, was ich schreiben will. Aber ich bin plan- und plotlos. Seit ich die Gauklerinsel fertig habe, fehlt mir mein Hauptwerk zum dran arbeiten, und die anderen Geschichten kann ich mir nicht mal eben so aus den Fingern saugen – ich komme über die Runden, ohne in die roten Zahlen zu rutschen, aber nur gerade so eben, und es schlaucht mich sehr.

Meine Güte, wir haben erst Februar, und ich will schon das Handtuch schmeißen! Was ist denn, wenn sich in Leipzig jemand für die Gauklerinsel interessieren sollte, und ich muß auf einen Schlag achthundert Seiten überarbeiten? Ich bin kein Berufs- und kein Vollzeitautor, ich muß auch noch Geld verdienen, ich habe einen Job! Jetzt sieht der Zeitplan so aus: Ich arbeite bis zwei, halb drei Uhr Nachmittags und fahre von dort, zumindest an jedem zweiten Tag, für ein Stündchen ins Fitnesscenter. Dann nach Hause, schnell einen Happen essen, Korrekturfahnen schnappen und ein Kapitel editieren. Dazu ein Tee. Dann den Mann daheim begrüßen, Tee und Abendessen, vielleicht ein Stündchen fernsehen. Dann wieder Korrekturfahren, noch ein Kapitel editieren. Mehr Tee. Musik anmachen und zwei Schreibsession à 750 Wörtern runterspulen. Kein Tee mehr. Schlafengehen.

Kann man das durchhalten? Mehr noch, kann ich? Wenn ich könnte, würde ich mein Jahresziel auf 400.000 Wörter reduzieren, das ist immer noch eine Menge. Letztlich habe ich nur deswegen so ein hohes Ziel gewählt, um die T12-Teilnehmerin Sophie, die letztes Jahr an der Zahl gescheitert war, für dieses Jahr anzuspornen und zu motivieren, nach dem Motto »Wenn du es 2011 nochmal wagst, ziehe ich mit!« Und wie dankt Sophie es mir? Indem sie in einem Affenzahn an mir vorbeizieht, jetzt schon fast doppelt soviel geschrieben hat, wie sie müßte, und offenbar völlig übermotiviert meine Unterstützung überhaupt nicht nötig hat. Ich aber schleppe mich mit meinem völlig überdimensioniertem Ziel von Tag zu Tag.

Natürlich könnte ich zu meinen T12ern gehen, ihnen mein Leid klagen und sie bitten, mir zu erlauben, das Ziel zu reduzieren, aber das kann ich nicht machen. So nachdrücklich verbiete ich jedem anderen eine Reduktion, daß ich das auch für mich selbst nicht geltend machen kann, egal wie überarbeitet ich bin. Das hätte ich mir vorher denken sollen, ich weiß, wie anstrengend letztes Jahr 410.000 Wörter waren, und daß eine Erhöhung um fast fünfundzwanzig Prozent mehr Arbeit bedeutet, war jedem klar, mich inbegriffen. Da hänge ich jetzt drin und komme nicht mehr raus. Selbst wenn die anderen mir da einen Sonderfall gestatten würden – wir haben da eine Hartlinerin unter den Teilnehmern, die mir das niemals nachsehen würde. Und diese Teilnehmerin bin ich selbst. Ich kann die 500.000 schaffen oder daran zugrunde gehen. Aber ich kann mein Ziel nicht mehr reduzieren. Mein Wort bindet mich.

Ade, Freizeit. Ade, Schlaf. ‚Überarbeitet‘ kommt von ‚überarbeiten‘. Ich bin wohl verloren. Ich bin selbst Schuld.

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