Unten an der vierten Wand

Ich habe sehr viel gebloggt in diesem Jahr – über mich, mein Leben, über Bücher, die ich gerade schreibe, und über Bücher, die auf dem Friedhof gelandet sind. Und jetzt habe ich ein Buch zu Ende geschrieben, über das habe ich in diesem Blog kaum jemals ein Wort verloren. Und das durchaus mit Absicht. Es ist nicht so, dass ich über dieses Buch nicht eine Menge zu sagen gehabt hätte – aber über weite Teile des Schreibprozesses stand fest, oder war zumindest schon sehr wahrscheinlich, dass der Oetinger Verlag dieses Buch veröffentlichen wird, und das schon im kommenden Herbst/Winter – und da wollte ich einfach Spoiler vermeiden.

Es ist eine Sache, wenn ich detailliert über das Entstehen von »Funkenschwarz« berichte, das noch lang nicht fertig ist und dessen Veröffentlichung in den Sternen steht – bis das Buch einmal draußen ist, wird sich keiner mehr an die Blogartikel dazu erinnern können, und ich kann sehr frei über meine Ideen und ihre Entwicklung berichten. Aber wenn das Buch schon in weniger als einem Jahr herauskommt, sind die Blogartikel aus 2023 noch zu frisch. Und in diesem neuen Buch sind ein paar Wendungen, die ich wirklich nicht vorwegnehmen möchte – und ich kann nicht über mich und meine Gefühle beim Schreiben sprechen, ohne zu viel zu verraten. Deswegen gibt es keine Blogartikel zu »Die vierte Wand«.

Aber jetzt ist das Buch fertig, und das ist mir dann doch einen Blogartikel wert. Ich will ja nicht so tun, als ob das Buch nicht existierte. Es ist kein Klopper geworden und sollte das auch gar nicht: 250 Normseiten, sagt der Vertrag, 245 hat die Rohfassung am Ende, das ist ziemlich nah am Ziel – nicht wie beim »Gefälschten Land«, bei dem ich beinahe 200 Seiten rauskürzen musste, um die Vorgaben des Verlags nicht völlig zu sprengen. 245 Seiten, nach der Überarbeitung wahrscheinlich ein paar weniger, das ist ein guter Umfang für ein Buch für Kinder ab 10 Jahren. Das ist auch ungefähr die Länge von »Unten« (ein bisschen kürzer, aber nicht viel) – nur habe ich an »Unten« mehr als zwei Jahre geschrieben, während ich »Die vierte Wand«, quasi in einem Rutsch runtergeschrieben habe.

Letztes Jahr im April, kurz nachdem ich die Zusage von Dressler bekommen hatte, hatte ich die Idee für ein Buch, das keine Fortsetzung zu »Unten« werden sollte, kein Sequel, sondern ein Equal, ein Buch, das genau so gut werden sollte, genau so bewegend, genau so philosophisch. Ich schrieb ein Probekapitel, fand es nett – aber 2022 war ein Jahr, in dem ich insgesamt nur sehr wenig geschrieben habe, und so blieb es bei fünf, sechs Seiten, und ich schob das Buch vor mir her, weil ich zwar einen Aufhänger hatte, aber keinen Plot. Ich erwog, es im Nano zu schreiben, entschied mich dann aber für das Märchen von der gehörnten Prinzessin und dachte nicht mehr groß an die neue Idee.

Aber als ich dann Anfang 2023 versuchte, meinen Groove zu finden, und jeden Tag an etwas anderem schrieb, holte ich »Die vierte Wand« wieder hoch, schrieb eine zweite Szene, und ließ es wieder liegen, denn Plot hatte ich immer noch keinen, und zu dem Zeitpunkt hoffte ich noch, dass der Nachfolgetitel zu »Unten« das Märchen aus dem Nano werden sollte – das war schön, lag fertig vor, aber dann machte es doch nicht das Rennen. So kann es gehen. Immerhin, die Verlagsgruppe wollte ein zweites Kinderbuch mit mir machen – und als ich mit meiner Agentin brainstormte, was wir ihnen anbieten könnten, und ich schon dabei war, ein Konzept für eine ganze Kinderbuchserie zu entwickeln, packte ich, mehr pro Forma, auch das Konzeptpapier und die Leseprobe zur »Vierten Wand« dazu. Und die Agentin meinte, das müssen wir sofort anbieten.

So pitchte ich dann in einer Videokonferenz dieses Buch, von dem ich zu dem Zeitpunkt gerade mal 25 Seiten Text hatte, und weil ich wohl einen echt guten Pitch hinbekommem habe – manchmal kann ich das echt gut – war auch die Lektorin angefixt und wollte das unbedingt prüfen. Und die Leseprobe gefiel. Nur, für eine Zusage war das noch zu wenig – ich hatte kein vollständiges Exposé, mehr einen Teaser, der mit einem Cliffhänger endete, und ein bisschen mehr Text sollte es schon sein. So setzte ich mich hin, machte aus 25 Seiten etwas über 100, und wartete. Und wirklich, ich bekam eine Zusage.

Ehrlich, ich hatte nicht damit gerechnet. Ich war fest überzeugt, nach der langen Leseprobe eine Absage zu kassieren – und zweifelte wieder mal an allem und mir selbst am meisten. Wie sollte ich »Unten» jemals wieder das Wasser reichen können? »Unten«, das war im Feuilleton besprochen worden, von der Stiftung Lesen empfohlen, als Schullektüre eingesetzt, und hatte gerade zu allem Überfluss den Wetzlarer Phantastikpreis gewonnen – wie sollte ich jemals wieder ein so gutes Buch schreiben? Und selbst jetzt, wo »Die vierte Wand« fertig ist, habe ich noch diese Stimmchen in mir, die sagen »Das ist nicht ‚Unten‘!«

Aber natürlich ist das nicht »Unten«. »Unten« gibt es ja schon. Und wenn ich mich endlich davon losgelöst habe, dass ich nochmal so etwas wie dieses Buch hinkriegen, am besten sogar übertreffen, muss, ist es ein wirklich gutes Buch geworden. Es hat nicht zu verachtende Parallelen zu »Unten«, das schon – beide Bücher handeln von Mädchen, die ungefähr elf Jahre alt sind und es mit einem ganzen Haus aufnehmen. Aber da enden die Parallelen auch schon. Nevo in »Unten« legt sich mit einer gigantischen Wohnanlage und deren Hausverwaltung an. Fox, die Heldin aus der »vierten Wand«, bekommt es stattdessen mit einem Puppenhaus zu tun. Wo »Unten« beklemmend dystopisch ist, kommt »Die vierte Wand« eher mild gruselig daher. Und ist »Unten» ein politisches Buch, wird es in der »Vierten Wand« philosophisch. Mein Fehler ist nur, dass ich beide Bücher zu oft miteinander verglichen habe.

Tatsächlich habe ich, denke ich, noch nie ein derart philophisches Buch geschrieben – das kann ich jetzt verraten, ohne zu spoilern. Mein allererster Vergleichstitel war Platos »Höhlengleichnis«, mit dem Zusatz »für Zehnjährige«. Das werde ich nicht zu laut sagen, weil ich fürchte, es könnte Käufer:innen abschrecken – das klingt wie schwere Kost, und so schwer ist das Buch dann wirklich nicht geworden. Deswegen sind meine offiziellen Vergleichsztitel jetzt »Der kleine Prinz«, »Sofies Welt« und »Coraline«. Und, wie immer, wenn man so verschiedene Bücher als Vergleichstitel bemüht, ist das Endergebnis doch wieder etwas ganz eigenes.

Und ich kann stolz auf mich sein. Ich habe einen Vertrag für das Buch unterschrieben, als es noch nicht einmal halb fertig war, und dann, anders als bei früheren Büchern, die in der gleichen Situation waren, keine Probleme gehabt, es fristgerecht fertigzuschreiben. Jetzt habe ich noch bis zum Jahresende Zeit, das Buch zu überarbeiten, und meine handschriftlichen Korrekturfahnen gehen schon bis zur Seite 96, und ich habe keine Sorge, das Ende des Jahres fristgerecht abzugeben. Wenn ich daran zurückdenke, wie ich über den »Spiegeln von Kettlewood Hall« oder Band zwei und drei der »Neraval-Sage« geschwitzt habe …

Heißt das, der Fluch ist gebrochen? Ich kann jetzt ohne schwitzen, ächzen, fluchen Bücher auf Basis von Exposé und Leseprobe verkaufen und auf Kommando fertigschreiben? Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber nach diesem höchst erfolgreichen Schreibjahr halte ich das durchaus für möglich. Da ist einfach ein Knoten in mir geplatzt. Da habe ich einen Nanowrimo gewonnen, obwohl das Buch keinen Plot hatte, da habe ich »Die vierte Wand« nahezu in einem Rutsch runtergeschrieben, obwohl ich stellenweise doch sehr an mir gezweifelt habe – ich habe da einfach eine Disziplin entwickelt, die ich nicht mehr wieder hergeben mag. 2023 ist das erste Jahr, in dem ich, seit ich mich selbständig gemacht habe, wirklich das Gefühl hatte, professionell zu arbeiten. Und hatte trotzdem das ganze Jahr über Spaß am Schreiben.

Jetzt ist sie also fertig, »Die vierte Wand«. Das Buch hat Plotwendungen, auf die ich wirklich stolz bin, einen Schluss, von dem ich noch nicht weiß, ob der so bleiben kann, interessante Figuren, eine sehr behutsame Kinderfreundschaft, und über allem ist es ein Plädoyer für die Macht des Geschichtenerzählens, den Zauber des Lesens und die Macht der Wörter. Es hat, zehn Jahre nach dem »Puppenzimmer«, gruselige Puppen, diesmal kindgerecht verpackt. Und was ich jetzt so beim Überarbeiten gelesen habe – ziemlich genau den Teil, auf dessen Basis ich den Vertrag bekommen habe – liest es sich auch wirklich gut. Vielleicht ist es nicht so schräg wie »Unten«. Aber das muss es auch gar nicht sein. Wichtig ist, dass es etwas Eigenständiges ist. Es sollte ja nie eine Fortsetzung werden. Nur gut. Und ich denke, ohne mich jetzt selbst loben zu wollen – gut ist es geworden.

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