Wo bitte geht’s zur Unterwelt?

Es ist gut und gern fünf, sechs Jahre her, dass ich von der Idee für eine neue Geschichte angesprungen wurde. Soweit, so gewöhnlich – ich bekomme regelmäßig Ideen für neue Geschichten, und nur die Wenigsten davon bringen es auch nur bis zur ersten Seite, weil sie, von allen Seiten beleuchtet, dann doch nicht so gut scheinen wie im ersten Augenblick.

Aber diese Idee setzte sich fest: Eine Reise in die Unterwelt sollte es werden, nicht mehr und nicht weniger. Angesiedelt in einer Welt, in der man den Toten ihre Lebensgeschichte in Bildform auf den Leib tätowiert, sollte diese Geschichte von einem Tätowierer handeln, der bei der Illustration eines Toten pfuscht und ihn zur Strafe in die Unterwelt begleiten muss, um dort von dem Torwächter Rede und Antwort zu stehen. Einen richtigen Arbeitstitel hatte ich nicht, wohl aber einen Platzhalter: »Tättoo und Harry«. Klingt dämlich und ist es auch, aber die Idee hatte was. Nur nicht genug, um sie sofort umzusetzen.

Da gab es zwei Hindernisse. Das eine war, dass ich nicht die einzige im Tintenzirkel war, die eine Geschichte über eine Reise in die Unterwelt plante. Ausgerechnet die großartige Malinche, die ich sehr bewundere und schätze, hatte eine Idee, die meiner nur im allerweitesten ähnlich war – von der Unterwelt abgesehen, hatten wir keine Überschneidungen geplant, ihres war die mexikanische Unterwelt, meines die eines noch näher auszuarbeitenden eigenen Settings – aber weil sie dazu noch von der gleichen Agentin vertreten wird wie ich, wollte ich ihr da wirklich keine Konkurrenz machen. So viele Autoren hat die Erzählperspektive nicht, dass sie gleich zwei Unterwelttrips auf einmal anbieten könnte, nicht bei den gleichen Lektoren, und so verzichtete ich und ließ ihr den Vortritt, ihre Idee in die Tat umzusetzen.

Meine nämlich, das war das zweite Hindernis, kränkelte. Und das lag an meinen Protagonisten. Zwei davon hatte ich, den Tätowierer und seinen toten Begleiter – und der ist, anders als im Grimm’schen Märchen vom Reisekameraden, nicht nur tot, sondern auch stumm. Kein Geist, keine lebende Leiche, sondern so tot, wie das nur irgendwie geht, und damit sah ich mich in meinem Handlungsspielraum doch stark eingeschränkt. Meine Kritiker werfen mir ohnehin vor, dass bei mir nicht genug passiert und zu viel geredet wird – jetzt hatte ich nicht einmal mehr eine Grundlage für Dialoge. Nicht gut. Ich ließ die Idee vor sich hin gären und hoffte, dass mir irgendwann etwas einfallen könnte, um sie buchstäblich mit Leben zu füllen.

Ein, zwei Jahre gingen ins Land, bis »Tättoo und Harry« sich wieder meldete – diesmal in Form meines Protagonisten. Er stellte sich mir als Varda vor, rauchte Kette und bestand darauf, dass ich sein Buch schreiben sollte, jetzt, sofort. Plot hatte er mir keinen mitgebracht, Infos zu dieser nicht näher bezeichneten Unterwelt auch nicht, aber immerhin zu seinem Setting: Das sollte modern werden. Zumindest modern genug für Zigaretten und Tätowiermaschinen, und Kühlaggregate für die Räume, in denen tote Leute tätowiert werden. Bis dahin hatte sich das Ganze irgendwie fantasymäßiger angemutet, aber dafür brachte Varda mir etwas mit, das ich noch nicht von ihm wusste: Er hat eine Gabe.

Varda ist ein Mnemomant. Wenn er einen Menschen berührt, kann er dessen Erinnerungen auslesen – und das tut er auch mit Toten. Vorzugsweise mit Toten. Innerhalb der Totentätowierer ist Varda etwas Besonderes, spezialisiert auf unbekannte Tote, deren Geschichte niemand kennt. Damit die trotzdem tätowiert in die Unterwelt reisen können, sind sie auf Vardas Dienste angewiesen, denn nur der kann ihre Geschichte in Erfahrung bringen. Und was immer Vardas Dämonen auch sein mochten – hier war ich mit meinen. Unidentifizerte Tote und die Ermittlungen, ihnen ihre Namen zurückzugeben sind ein Kaninchenloch, in das ich zu oft hineinfalle. Bereits einmal habe ich das Thema, damals in der Hoffnung, mich davon zu befreien, in einem Roman verarbeitet – »Unterm Laub« aus der Percy-Reihe. Es ist eines meiner allerbesten Bücher geworden, nur die Faszination für die unbekannten Toten bin ich damit nicht losgeworden. Und nun hatte ich sie in der nächsten Geschichte.

Innerhalb weniger Tage brodelte Plot aus mir heraus. Um Varda herum spann sich eine Welt, die unserer in vieler Hinsicht ähnelte, aber nicht in jeder. Ich erfuhr mehr über die Mnemomanten. Deren üblicher Einsatzort ist nicht das Tattoostudio, sondern das Gericht, wo sie Angeklagte und Zeugen auf den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen abklopfen, schließlich können sie sehen, was wirklich passiert ist. Plötzlich hatte ich Anklänge an das »Babylon 5«-Psi Korps in meiner Geschichte – und an »Richterin Barbara Salesch«. Was Gerichtsdramen angeht, bin ich nämlich nicht ganz unbeleckt. Mein erster bezahlter Autorenjob war für die Firma Filmpool, Scripte für »Richterin Barbara Salesch« und »Das Familiengericht«, und ich denke immer noch gern an die Zeit zurück, als ich Fälle wie »Später Fluch des Pharaos« oder »Tödliches Autosurfen« geschrieben habe. Zugegeben, Fantasy schreibe ich lieber, aber Gerichtsshows, das war schon ein großer Spaß, und jetzt konnte ich von meinem Vorwissen profitieren.

Nur das Hauptproblem löste es immer noch nicht. Meine zweite Hauptfigur war immer noch nicht nur namenlos, sondern tot. Wobei – was, wenn ich stattdessen eine andere Hauptfigur einführte? Lebendig, zur Abwechslung? Vielleicht sogar ein Love Interest für Varda? Und als dann Narun Harad auftrat, wusste ich, ich bin bereit, dieses Buch endlich zu schreiben. Narun war Journalistin, neugierig, aufgeschlossen, alleinerziehende Mutter – und arbeitete an einem Stück Investigativreportage über Mnemomanten. Durchaus kritisch stellte sie sich der Frage, warum man jemanden, der eine von außen nicht nachzuvollziehende Gabe besitzt, vor Gericht die Macht über die Wahrheit anvertrauen sollte und was das noch mit objektiver Urteilsfällung zu tun hat. Bei ihren Recherchen stößt sie auf Varda, das Schwarze Schaf seiner Familie, und ist fasziniert von dem Fall des verkrachten Mnemomanten, der statt vor Gericht im Leichenhaus steht. Fasziniert genug, um ihm zum neuen Mittelpunkt ihrer Reportage zu machen. Nur, ist sie auch fasziniert genug für eine Reise ohne Wiederkehr?

Ein weiteres Element klickte in meinem Kopf zusammen. Ein Gottesbeweis. Als Varda, übermüdet nach zu langen Arbeitsschichten, den nächsten Fall reinbekommt und ihn in Trance statt mit dessen eigener Lebensgeschichte mit Szenen aus seiner eigenen Familie tätowiert, wird er verurteilt, mit diesem Toten in die Unterwelt zu reisen – ein Fall, der in der Öffentlichkeit durchaus Wellen schlägt, und Narun meldet sich freiwillig, Varda auf dieser Reise zu begleiten. Eine Reisereportage aus der Unterwelt, wann gibt es das schon mal? Nur, dass Narun an diese Unterwelt überhaupt nicht glaubt. Sie will den Beweis führen, dass der Stille Fluss, über den die Toten reisen, nach seinem unterirdischen Lauf wieder irgendwo ans Licht tritt und die Toten in einem Höhlensystem zu liegen kommen, wo ihnen nicht das ewige Leben widerfährt, sondern sie ganz klassisch verrotten. Also, es soll weniger ein Gottesbeweis werden als mehr dessen Gegenteil. Die Kirche hat Narun zu viel Macht, und sie ist bereit, etwas dagegen zu zun. Selbst auf einem Fluss reisen, von dem es vielleicht bis wahrscheinlich kein Zurück gibt.

Meine Story war rund, bekam einen neuen Arbeitstitel und hieß nun »Wie Haut so kalt« – erst nur eine »Alles ist besser als ‚Tättoo und Harry’«-Notlösung, die mir dann immer mehr ans Herz wuchs und die ich heute unter »Bester Titel aller Zeiten« verbuche. Und weil ich von Malinche grünes Licht bekam, dass sie gerade selbst gar nicht an ihrer Unterweltgeschichte arbeitete, machte ich mich endlich an die eigentliche Arbeit, das Schreiben meines Buches. Und ich traf eine folgenschwere Entscheidung: Ich holte weit aus. Es erschien mir nötig – die Welt musste eingeführt werden, die Mnemomanten waren nicht selbsterklärend, und den Brauch, die Toten zu tätowieren, wollte ich auch nicht als gegeben voraussetzen, dazu die Frage, wie Varda überhaupt als Tätowierer enden konnte … Also setzte ich mit der Szene ein, in der ein jugendlicher Varda zusammen mit seinem Kumpel bekifft das Auto dessen Bruders klaut und vor ein Straßenschild setzt. Die sich daraus ergebende Vorstrafe führt dazu, dass ihm die Zulassung zum gerichtstauglichen Mnemomanten verwehrt wird. Und sich der Rest ergibt.

Und die Geschichte schrieb sich wirklich gut. Die Dinge passierten wie von selbst, eins ergab sich aus dem anderen, Varda erlebte Rückschlag um Rückschlag, und ich musste nur mit dem Schreibzeug hinter ihm herrennen und seine Missgeschicke aufzeichnen. Die Geschichte, die mit so viel Hintergrund und so wenig Plot an den Start gegangen war, machte es mir einfach. Da war meine bürokratische Welt, in der Mnemomanten vom Amt für Sonderbegabungen verwaltet werden. Da waren Vardas Eltern, die nur das Beste für ihn wollten und dabei doch den Ruf ihres Hauses über alles andere stellten. Da war meine Gesellschaft, in der sich eine Religion gegen drei andere durchgesetzt hatte und, wiewohl der Staat offiziell säkulär war, doch gewaltige Macht von der Kirche ausgeübt wurde. Und mittendrin war Varda, der versuchte, irgendwie mit den Erwartungen, die sich ob seiner Gabe an ihn stellten, schrittzuhalten und dabei doch immer mehr unter die Räder kam.

Kapitel um Kapitel floss aus meiner Feder, während ich versuchte, die Eckpunkte meiner Handlung abzuarbeiten, aber was nur die Vorgeschichte zum eigentlichen Plot, der Reise in die Unterwelt, hatte werden sollen, entwickelte ein Eigenleben. Im vierten der im Schnitt 25 Normseiten langen Kapitel begegnete Varda überhaupt erst seinem ersten Toten. Im sechsten Kapitel beginnt er unter der Arbeitslast als Tätowierer der Namenlosen zusammenzubrechen – er ist der einzige im Land, der das tut, und jeder Unbekannte landet auf seinem Tisch, ob er gerade Kapazitäten hat oder nicht – und flüchtet sich in Rauch und Rotwein. Im siebten Kapitel steht dann die Kriminalpolizei vor der Tür und verlangt, dass Varda mithilft, einen Serienmörder zu finden. Und vielleicht war das der Zeitpunkt, an dem ich verstanden habe, dass das ein ganz anderes Buch wird als geplant.

Zu dem Zeitpunkt ging mein Text auf an die 200 Normseiten zu, und Narun Harad war noch nicht einmal aufgetreten. Und sie wurde auch nicht vermisst, nicht von Varda, der ganz andere Sorgen hatte als die Frage nach einem Love Interest, und auch nicht von mir, denn es passierte ja auch ohne sie schon eine Menge. Ich hatte neben Varda eine ganze Reihe schillernder Figuren – seine Mutter, die ihm offenbar etwas verschweigt und die kein Wort mehr mit ihm redet, seit er Totenleser geworden ist. Mayum, seine Vorgesetzte im Bestattungsinstitut Sanfte Woge, die ihm den Rücken freihält, wo sie kann. Sein Kumpel Karka, ein Kleindealer, bei dem sich Varda mit Gras und Aufputschmitteln versorgt, wenn Rotwein und Zigaretten nicht mehr ausreichen. Und Staatsanwalt Virku, der buchstäblich über Leichen geht, um einer Mordserie ein Ende zu setzen. Narun fehlte nicht, und ich machte erst einmal ohne sie weiter – ihre Zeit würde schon noch kommen, wenn es denn in die Unterwelt ging.

Aber die Unterwelt war so fern wie am Anfang. Mehr noch – selbst wenn Varda einen seiner Toten völlig verpfuscht hätte, wäre der trotzdem einfach beigesetzt worden, zu gering ist das allgemeine Interesse an diesen Menschen, die vom Rand der Gesellschaft kommen und allein und vergessen gestorben sind. Es ist schon viel, dass sie dank Varda überhaupt tätowiert werden können, aber ihre Geschichten haben schon zu Lebzeiten niemanden interessiert, im Tod sind sie erst recht verloren, und bis auf Varda und den guten Vater Tolja vom Schrein nimmt niemand an ihnen Anteil. Das geöhrt zu den Dingen, die an Varda nagen – er reibt sich auf, um ihnen ihre Identität zurückzugeben, doch dann nehmen sie die mit auf den Stillen Fluss, ihre Angehörigen erfahren nichts von ihrem Schicksal, und niemand ist darunter, in dessen Leben Religion so eine große Rolle gespielt hätte, dass ihnen das Jenseits und die Reise in die Unterwelt nun viel bedeutet hätten. So groß der Einfluss der Kirche auch sein mag, ändert das nichts daran, dass diese Namenlosen keine Rolle spielen, und die Kirche würde ihren einzigen Totenleser nicht auf eine Reise ohne Wiederkehr zwingen, selbst wenn der einmal wirklichen Mist baut.

Und da bin ich jetzt. Im vierzehnten Kapitel bin ich längst jenseits der Hälfte des Buches. Von meinem einstiegen Aufhänger, der Reise in die Unterwelt, ist nichts mehr übrig, und auch von Narun Harad hat noch niemand etwas gehört. Stattdessen haben wir ein Gerichtsdrama, einen Überwachungsstaat, dunkle Familiengeheimnisse. Es ist spannend, meiner Ansicht nach zumindest, es geht unter die Haut, der Weltenbau ist so stark wie in kaum einer anderen Geschichte von mir, die Figuren interessant – aber es gibt keine Unterwelt, und es gibt keine Liebesgeschichte. Anderthalb Jahre hat »Wie Haut so kalt« zuletzt brachgelegen, weil ich noch versuchen wollte, Narun nachträglich in die Geschichte einzubauen, damit ich auch ohne Reise ins Jenseits zumindest den Love Interest in der Story habe, aber es hat nicht funktioniert. Die Geschichte ist zu dicht dafür, ich will keine Löcher hineinreißen und eine zweite Hauptfigur nachträglich unterheben wie Eischnee. Es bleibt ein Buch ohne Liebe, und das muss es auch mal geben dürfen.

Jetzt habe ich also ein tolles Buch, das langsam auf die Ziellinie abbiegt und mit seiner Ausgangsidee kaum noch etwas gemein hat. Das ist meine Art zu arbeiten – ich lasse es drauf ankommen, ich schaue, was passiert, ich lasse mich selbst von meinem Plot überraschen. Darum hat es mich auch derart gestresst, »Die Spiegel von Kettlewood Hall« auf Basis von Exposee und Leseprobe verkauft zu haben und dann diesem Exposee aufs Wort folgen zu müssen. So wie jetzt arbeite ich lieber, ich schreibe eine Geschichte, und wenn ich weiß, was aus ihr geworden ist, kann sie angeboten werden oder nicht, je nachdem, für wie gut gelungen ich sie halte und natürlich, was meine Agentin dazu sagt.

Es ist mein Ziel, »Wie Haut so kalt« noch in diesem Sommer/Herbst fertigzuschreiben. Und dann? Dann schreibe ich die Fortsetzung, in sich abgeschlossen, in der gleichen Welt angesiedelt, aber mit einer neuen Hauptfigur. Eine Reise in die Unterwelt soll es werden, ein Gottesbeweis oder besser dessen Gegenteil, und eine Journalistin mit Namen Narun Harad wird darin die Hauptrolle spielen. Vielleicht wird sie Varda begegnen. Vielleicht auch nicht. Ich lasse es drauf ankommen. Aber immerhin, einen Arbeitstitel habe ich schon mal, einen, den ich liebe: »Ein Fluss so still«, wird es heißen. Vielleicht ist das etwas für diesen Nanowrimo. Vielleicht gehe ich wieder fünf Jahre lang damit schwanger, ehe ich die Idee umsetze. Und vielleicht, vielleicht wird wieder etwas ganz anderes daraus. Die Hauptsache, es wird gut.

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