Wie Tag und Nacht

Ich war immer ein Frühaufsteher. Während meiner Schulzeit stand ich routiniert gegen fünf Uhr morgens auf, machte erst meine Hausaufgaben vom Vortag, dann das Frühstück für die Familie, und es es ging mit gut damit. Auch während meines Studiums, als Hausaufgaben kein Thema mehr waren, ging mein Wecker um halb sechs, damit ich vom Bett aus – Luxus meiner Studentenbude: eine eigener Fernseher – noch Anime wie »Voltron« oder »Mila Superstar« auf RTL2 schauen konnte. Und Frühstücken, natürlich. Langes und ausgiebiges Frühstücken war meine liebste Mahlzeit am Tag. Wenn man die Menschen in Eulen und Lerchen unterteilte, war ich, bei aller Liebe zur Eule, eine 100%ige Lerche.

Mir reichten sieben Stunden Schlaf, dann wurde ich tendenziell von selbst wach. Auch in den Ferien ging länger ausschlafen mehr mit später aufbleiben einher – und wenn ich meine beste Freundin in Dortmund besuchte, die gerne lang ausschlief, saß ich morgens in ihrem Zimmer herum und langweilte mich, las lieber ein paar von ihre Büchern, als mich noch mal hinzulegen, wo ich ohnehin nicht eingeschlafen wäre. Jeder Organismus ist unterschiedlich, und meiner war mit seinen sieben Stunden voll zufrieden.

Ich blieb viele Jahre lang ein Morgenmensch, selbst als ich arbeitslos war – aber Dinge veränderten sich. Ich blieb nachts zu lange auf, weil ich nicht richtig müde wurde, und am anderen Tag fehlte mir Schlaf – man kann nicht gleichzeitig Morgen- und Nachtmensch sein und dabei noch gesund bleiben. Aber dass ich nicht gesund war, das wusste ich ja. Seit meiner Ausbildung wurde ich gegen Depressionen behandelt, auch wenn ich ahnte, dass da noch mehr dahintersteckte – und 2008 war es dann soweit: Ich erlitt meine erste Psychose. Nach mehreren Nächten ohne Schlaf brannten mir die Sicherungen durch, und auch wenn ich positiv auf das Medikament ansprach, das mir mein Arzt verschrieb, war klar, dass ich ein Problem hatte, das über bloße Depressionen hinausging.

2009 und 2010 erlitt ich weitere Psychosen, und meine Ärzte wechselten mich durch die Medikamente, um zu verhindern, dass sich das wiederholen würde. Eine Psychose ist kein Vergnügen, der völlige Verlust der Kontrolle über das eigene Denken und Fühlen. Wirklich, ich möchte keine mehr haben – und meine Medikamente halfen, verhindern schwere Fälle, und auch wenn ich noch ein paar leichtere Anflüge von Psychose hatte, kam es nicht mehr zur kompletten Hirnschmelze.

Der Preis, den ich bezahlte, war hoch. Innerhalb eines Vierteljahres nahm ich dreißig Kilo zu. Ich musste meine Arbeit in der Bibliothek aufgeben, weil meine Chefin wegen meines hohen Krankenstands meine befristete Stelle nicht mehr verlängern mochte. Vor allem aber entwickelte ich Schlafstörungen, die mich auf die Dauer komplett von der Welt der Lebendem isolierten. Meines natürlichen Müdigkeitsgefühls beraubt, schlief ich an kaum einem Tag von sechs, sieben Uhr morgens ein, und wurde dementsprechend auch nicht vor dem späteren Nachmittag wieder wach, erschöpft und ohne Energie.

Das Leben fand ohne mich statt. Jede Form von Termin musste von langer Hand geplant werden, ob es ein Arztbesuch war oder ein Treffen mit Freunden. Alles, was Vormittags oder auch nur Tagsüber angesetzt war, fiel für mich weg. War doch einmal ein Termin zu dieser nachtschlafenen Stunde nicht zu vermeiden, hatte ich keine Wahl, als die Nacht davor durchzumachen und irgendwann am Abend drauf erledigt ins Bett zu fallen – nur, damit mein Biorhythmus innerhalb zweier Tage wieder in die Zeitzone von Equador zurückrutschte. Es trennte und entfremdete mich von meinen Freunden, und ich gab ein Hobby nach dem anderen auf, weil mir Zeit und Energie dafür fehlten. Unseren letzten Urlaub haben wir 2014 gemacht – wenn ich die ganzen Tage verschlafe, haben wir nicht viel davon.

Zehn Jahre nach meiner letzten großen Psychose war ich ein Einsiedler geworden, der sein Leben in der Nacht lebt. Mit meinem Mann führte ich eine Fernbeziehung zwischen zwei Zeitzonen, während wir im gleichen Haus wohnten. Sogar ins Fernsehen brachten mich meine Schlafstörungen: Im »Nachtcafe« auf dem SWR plauderte ich über mein Leben als nächtlicher Kunstschaffender, offen über meine gesundheitlichen Einschränkungen, mit meinem üblichen Augenzwinkern, und dem, was ich positives aus meinem Nachtleben mitnehmen konnte – es ist ja nicht alles schlimm und durchaus schön, die Nacht für sich zu haben. Wirklich, ich habe nichts gegen die Nacht. Aber mir fehlte der Tag, und wenn ich hätte wählen müssen … dann hätte ich wahrscheinlich versucht, beides zu bekommen.

»Haben Sie eine Aussicht, dass sich das wieder für Sie bessert?«, fragte der Moderator beim anschließenden gemeinsamen Abendessen, und ich verneinte resigniert – die Hoffnung hatte ich aufgegeben, und ich war bereit, das Beste drauszumachen. Aber es wurde nicht das Beste. Es wurde schlimmer. Vierzehn Stunden Schlaf und immer noch erschöpft – da bleibt nicht viel Zeit zum Leben übrig. Ich war an einer Stelle angekommen, wo mir die Aussicht, alle paar Monate eine Woche lang eine Psychose zu haben und ansonsten ein normales Leben wie eine attraktivere Lösung erschien als das, was ich stattdessen hatte – keine Psychosen mehr, aber auch praktisch keine Lebensqualität.

Auf mein Medikament einfach zu verzichten – das kam nicht infrage. Ich habe Schizophrenie, ich bin auf Medikamente angewiesen, um nicht gewalttätig gegen mich und andere zu werden. Die Selbstmordrate unter Schizophrenen, die ihre Medis eigenmächtig absetzen, ist hoch, und bei allen Einschränkungen lebe ich doch deutlich lieber so als gar nicht. Aber ich hatte die Hoffnung, dass es vielleicht ein Mittel gibt, das bei mir bessere Ergebnisse bringt – das, was ich zehn Jahre lang hatte, schien mir einfach nicht auszureichen gegen diese alles dominierenden Schlafstörungen. Und die Dosis erhöhen, was schon versucht worden war, hatte keine große Besserung mit sich gebracht.

Als ich also den nächsten Termin bei meiner Nervenärztin hatte – ich habe im vergangenen Jahr die Praxis gewechselt, weil ich mich von dem Arzt, bei dem ich zehn Jahre lang war, mehr verwaltet als behandelt gefühlt habe und auch kein gesteigertes Interesse gesehen, etwas an meiner Situation zu verbessern – ein Herz gefasst und gefragt, ob wir an meiner Medikation drehen können. Hintergrund war, dass ich angefangen habe, einen Fitnesstracker zu tragen, vor allem, um meine Schlafphasen zu verfolgen, aber natürlich auch, weil ich mich mehr bewegen will (was nicht heißt, dass ich da dann auch tue …) und festgestellt hatte, dass wenn ich einen Taglang durchmache und einmal auf meine Tablette verzichte, mein Puls von seinen massiven durchschnittlich über 100 Schlägen pro Minute auf unter 90 fällt. Und mein hoher Puls, der mir bei kleinster Belastung Herzrasen verpasst, war einer der Gründe dafür, dass ich mir für alles die Kraft fehlte.

Die Tatsache, dass Tachykardie (hoher Puls) zur Liste der Nebenwirkungen gehörte, bewog meine Ärztin dazu, es tatsächlich mit einem neuen Medikament zu versuchen. Das ist keine kleine Aktion. Wenn man ein Psychopharmakum – in meinem Fall: ein Antipsychotikum – zehn Jahre genommen hat, setzt man das nicht von einem Tag auf den anderen ab. Da riskiert man eine Psychose, das geht nicht unter ärztlicher Aufsicht. Meine Ärztin stellte mir einen Plan zusammen, wie ich das alte Mittel aus- und das neue einschleichen sollte über einen Zeitraum von zweieinhalb Wochen, und ich hielt mich daran, akribisch. Erst konnte ich keine große Veränderung beobachten – ich war in einer Ausnahmesituation, noch bevor ich meine neuen Tabletten hatte abholen können, war meine Heimatstadt von der Flutkatastrophe heimgesucht worden, die Apotheke zerstört, so dass ich anderswo neu bestellen musste, und ich selbst völlig durch den Wind, danach wurde auch noch mein Vater sehr krank und musste operiert werden, und ich konnte nicht sagen, dass es mir jetzt toll gegangen wäre, mit dem neuen Mittel oder ohne.

Ich verbrachte ein paar Tage bei meiner Familie, bis mein Vater die OP erfolgreich hinter sich hatte, arbeitete dabei fleißig am »Gefälschten Land« und bildete mir ein, dass ich in der Lage war, die Dinge vielleicht etwas gelassener zu nehmen – aber den eigentlichen Unterschied merkte ich erst, als ich das alte Mittel komplett absetzte und bei dem neuen bei der finalen Dosis angekommen war. Und das war, buchstäblich, ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ein paar Probleme mit Nebenwirkungen hatte ich, vor allem Sodbrennen, und in der Nacht nach dem Absetzen schlief ich nur fünf Stunden – Entzugserscheinungen, wie ich annahm, aber ich fühlte mich erstaunlich wach und freute mich, zur Abwechslung mal Tageslicht zu sehen.

In der Nacht drauf schlief ich sechs. Dann fünfeinhalb. Dann sechseinhalb. Und ich fing an, mir Sorgen zu machen. Wenn sich dieser Schlafentzug kumulierte – schlitterte ich dann gerade in die nächste Psychose? Ich bekam kurzfristig einen Termin bei meiner Ärztin (den eigentlichen Termin, bei dem es um meine Verträglichkeit der neuen Tabletten ging, hatte ich verpasst, weil ich während des Aufenthaltes bei meinen Eltern die Termine durcheinandergebracht hatte) und berichtete von meinen Schlafproblemen – und, dass es mir gut ging damit. Ich war ja wach, ich war ausgeschlafen, ich schlief sogar ziemlich problemlos um Mitternacht ein: Ich wurde nur jedes Mal nach irgendwas um die sechs Stunden von selbst wach, und mein Körper schien damit zufrieden.

Es war sogar mehr als nur wach: Ich stellte fest, dass ich wieder Energie habe. Ich war in der Lage, einen gewaltigen Endspurt-Triathlon mit dem »Gefälschten Land« hinzulegen, bei dem ich jeden Tag eine längere Szene (mehr als Nanowrimo-Pensum) schrieb, ein halbes Kapitel annotierte und ein ganzes ins Reine tippte, ein Acht-bis-zehn-Stunden-Tag, den ich früher nicht hätte bewältigen können, und mit dem es mir erstaunlich gut ging. Ich suchte in mir die Symptome beginnender Psychosen – plötzliche Arbeitswut ist ein Warnsignal, und als nächstes kann man nicht mehr damit aufhören – aber ich fand sie nicht. Meine Ärztin meinte, dass ich zu aufgedreht wäre, und bat mich, das Arbeitspensum nicht über acht Stunden zu übertreiben, aber ich war vor allem aufgedreht vor Freude, dass ich mein Leben zurückhabe. Das Pensum reduzierte ich trotzdem ein Stückchen. Man will ja nichts riskieren.

Aber als meine alte Ärztin anbot, mir das alte Mittel nochmal als Erhaltensdosis für mehr Schlaf zu verschreiben, lehnte ich ab. Mit Nachdruck. Was ich zehn Jahre lang nicht verstanden hatte, tat sich jetzt innerhalb von wenigen Tagen sehr deutlich auf: Die Tabletten waren stark dämpfend. Ich hatte nicht nur gewaltig an Gewicht zugenommen und einen hohen Puls – meine Energie fehlte nicht trotz, sondern wegen der Tabletten. Ich war nicht bematscht oder wie in Watte gepackt, das wäre mir aufgefallen. Aber ich war immer müde, und immer kraftlos. Dahin wollte ich nie wieder zurück, nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.

Inzwischen, zwei Wochen nach der Umstellung, hat sich alles eingependelt. Ich gehe zwischen Elf und Zwölf ins Bett und schlafe gesunde sieben bis acht Stunden. Ich habe kein Schlafdefizit und auch keine Psychose entwickelt. Ich bin tagsüber wach, und wenn ich dann schlafen gehe, dann nicht, weil ich mich mit eiserner Disziplin dazu zwinge, sondern weil ich schlicht und einfach müde bin. Und bei Tag habe ich Energie, beinahe vergleichbar der eines gesunden Menschen. Das Buch liegt im Lektorat, und ich habe mich ein bisschen erholt. Es geht mir gut, und ich will, dass es so bleibt. Ich habe mich sogar für einen VHS-Kurs angemeldet: Aquarellmalen am Vormittag. Am Vormittag! Ich!

Bitte drückt mir die Daumen, dass es auch so bleibt. Die zehn Jahre bekomme ich nicht zurück. Aber die nächsten zehn sollen toll werden.

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