Tag Fünf: Ey, Alter!

Wieder einmal ist es an der Zeit, eine der schönen Fragen zu beantworten, die ich noch während meiner Lebzeiten abarbeiten möchte. Und seht nur, ich bin schon bei der Fünften angekommen!
5. Dem Alter nach, wer ist deine jüngste Figur? Die Älteste? Wer ist „am jüngsten“ und „am ältesten“ im Bezug auf den Erschaffungszeitpunkt?

Gerade wollte ich schon behaupten, die kleine Vivian in den Mohnkindern wäre meine jüngste Figur, aber das stimmt natürlich nicht. Die Jüngste ist das Kind in der Gauklerinsel. Es hat über weite Teile des Buches keinen Namen, ganz am Ende nennt Roashan es ‚Sprotte‘, aber das ist eine eher unglückliche Übersetzung von ‚Kipper‘, wie es in den ursprünglich englischsprachigen Roashan-Geschichten hieß. Aber da das Kind noch nicht sprechen kann, ist es ihm vermutlich egal. Es ist ein Säugling von vielleicht einem halben Jahr, was es als allerjüngste Figur vermutlich so lange unschlagbar macht, bis mal eine meiner Heldinnen ein Kind bekommt – wobei mir einfällt, das ist schon passiert, als Hana am Ende von Falkenwinter ihre Tochter bekommt, und so ist Roashans unfreiwillig adoptiertes Kind vielleicht doch nicht das aller-allerjüngste, aber im Unterschied zu Hanas Tochter, die nur einmal erwähnt wird und zweimal durchs Bild getragen, spielt es eine Rolle. Es hat Text, selbst wenn es nur »Örp« sagt, und ist eine über weite Teile des Buches präsente Figur. Ein hässliches Baby, zu Dreivierteln Mensch und zu einem Viertel Meermann, das mich schon dreimal in Versuchung geführt hat, zwanzig Jahre später der Held einer Fortsetzung zu sein… Aber nein. Das werde ich nicht tun. Das Kind soll Kind bleiben.

Die älteste Figur ist wohl auch ziemlich unschlagbar, und das schon seit vielen Jahren. Morren, der Zauberer aus Eine Flöte aus Eis, ist so alt wie die Zeit, so alt wie das Universum, auch wenn er aussieht wie ein knackiger Kerl um die Dreißig oder genauer, wie Johnny Depp um die Mitte der Neunziger aussah, als dieses Buch entstand. Daher wirkt er nicht so alt, wie er ist, aber ich wüsste auch nicht, wie jemand, der vielleicht dreißig Millionen Jahre alt ist, sonst wirken sollte. Konkurrenz bekommt er von seinen Mitzauberern, die genauso lange am Start sind wie er selbst: Da ist sein Bruder Galfas, der eigentlich mehr Monicas Figur ist als meine, oder der grandiose Tomán aus der Spinnwebstadt, die Schwestern Reamen und Adramel, Adiza und ihr Bruder Sandor sowie noch ein paar, die überhaupt nie auftreten, aber zur Sicherheit schon mal ausgearbeitet wurden zu einem Zeitpunkt, wo wir noch davon ausgingen, Buch um Buch in dieser phantastischen Welt spielen zu lassen.

Wenn das nicht zählt und es um richtiges, menschliches Alter geht, das sich mit unseren Maßstäben messen lässt, muss ich mal überlegen. In seinen Fünfzigern war General Ladock in dem seit fast vierzehn Jahren auf Eis liegenden Torbryen-Zyklus, von dem nur wenige Kapitel existieren und das ich mal mit meinem Freund schreiben wollte, wobei sicher außer uns beiden nichts von der Existenz der Geschichte ahnt. Aber begraben ist es noch nicht, und das liegt auch an General Ladock. Dann wäre da noch Trosca aus der Gauklerinsel, der vielleicht auch auf die Fünfzig zugeht, was man aber nicht so genau sagen kann. Jurik aus den Chroniken der Elomaran fühlt sich schon mit Ende dreißig alt, aber man muss bedenken, dass viele meiner Geschichten in historisch geprägten Settings spielen, in denen die Lebenserwartung nicht überragend ist und nur die allerwenigsten Leute achtzig werden. So richtig, richtig alt sollte Oana sein, die als Mitglied der Heldengruppe in der Flöte aus Eis geplant war und statt dessen nur ein anderthalbseitiges Cameo hatte, weswegen ich sie hier nicht wirklich zähle. Grundsätzlich fühle ich mich am wohlsten, die nicht mehr als zwanzig Jahr jünger oder älter sind als ich, und mit Mitte Dreißig liege ich da gerade genau im Rahmen sechtzehn bis sechsundfünfzig, was eine ganz gute Bandbreite ist, vor allem wenn man für den Allagerbereich schreibt.

Vom Erschaffenszeitpunkt am ältesten sind natürlich Figuren wie Pombo oder der Räuber Buddelmann, von denen ich neulich schon erzählt habe, aber wenn es um Geschichten geht, die ich auch geschrieben habe und bei denen ich mir wirklich Gedanken darüber gemacht habe, eine Figur zu entwickeln und nicht nur einen Namen aufs Papier zu schreiben, lande ich bei dem immer noch namenlosen Icherzähler von Marlowe, Lime & Co., was ich mit fünfzehn geschrieben habe. Zu dem Zeitpunkt ging ich davon aus, dass ich außerstande wäre, lebendige Charaktere zu erschaffen, und bevölkerte meine ganze Kriminalparodie mit Gestalten, die ich aus anderen Büchern und Filmen ausgeborgt hatte. Aber ausgerechnet ‚Co‘, der etwas verpeilte, schusselige und beschränkte Privatdetektiv, stellte sich als eine Figur mit so viel Format heraus, dass ich danach nie wieder Angst hatte, eigene Charaktere zu entwickeln und es heute sogar als eine meiner größten Stärken betrachte.

Vom Entstehen her am jüngsten ist die wundervolle Marjorie Konstantijn aus den Mohnkindern, die erst nur als Ich-brauche-schnell-eine-Nebenfigur entstand und dann so schnell an Charakter gewann, dass sie kurz darauf zur Perspektiventrägerin und ständiger weiblicher Hauptrolle für die Percy-Serie erklärt wurde: Eine enigmatische, burschikose Mittdreißigerin, die mit großem Selbstbewusstsein Hosenanzüge und kurze Haare trägt (es ist immerhin erst 1921), dafür kiloweise Makeup aufträgt, ägyptische Zigaretten kettenraucht und vor allem deswegen mit Percy ausgeht, damit die Leute bei ihr nicht sicher sein können, ob sie nun eine Uranierin ist oder nicht, und damit Percy nicht unter Sodomie-Verdacht gerät, was ihn ja ins Zuchthaus bringen könnte. Sie hätte Archäologie studiert, wenn sie nicht durch ihre angeborene Begabung gezwungen worden wäre, ein Medium zu werden, und sie hat eine Katze mit Namen Charlemagne und ein Krokodil an der Decke hängen… Ach, ich liebe sie, sie ist eine ganz und gar prachtvolle ungeplante Hauptfigur und jetzt gerade ein Vierteljahr alt.

Aber sie wird die Position meiner neuesten Figur nicht lange behalten können. Die Mohnkinder steuern stark auf ihr Ende zu, und zwei neue Bücher stehen schon in ihren Startlöchern mit allem, was dazugehört, eingeschlossen großartige neue Figuren: Da ist ein Mädchen mit Namen Jenny Cooper, über die ich noch nicht viel verraten möchte, und Howard, der sich schon auf eine ganz besondere Freundschaft mit Percy freuen darf, sowie zwei Riegen wunderbarer Nebenfiguren – und wer sich dabei am allermeisten freut, bin ich. Vielleicht sollte ich mal nach dem Vorbild der Elomaran-Figurenliste eine werksübergreifende Datenbank meiner Figuren aufstellen. Zum einen hätte ich dann für ein paar Tage wieder etwas zu tun, was nicht direkt Schreiben ist, und zum anderen sind sie doch alle irgendwie wohlgeraten, und ich bin stolz auf einen jeden von ihnen, egal ob alt oder jung.

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