Leb wohl, du schöne Welt!

In wenigen Stunden startet der Event, auf den ich seit Wochen, wenn nicht seit Monaten, hingefiebert habe: der Nanowrimo. Zum achtzehnten Mal nehme ich in diesem Jahr teil, aber auch wenn mein Nano damit volljährig wird, freue ich mich da doch jedes Jahr aufs Neue drauf wie ein kleines Kind. Während anderswo Halloween gefeiert wird, sitze ich über den letzten Vorbereitungen  für mich und meine beiden Romane sowie für das Tintenzirkel-Forum. Die tägliche Statistik für in diesem Jahr fünfundachtzig Teilnehmer:innen gehört ebenso dazu wie die akribische Planung, wie die ersten Sätze in jedem Projekt lauten werden. Vor allem aber verbringe ich ein letztes bisschen Qualitätszeit mit meinem Mann. Traditionell gehen wir am 31. Oktober indisch essen, und das ganze steht unter dem Motto »Leb wohl, du schöne Welt!« – denn von der Welt im Großem und meinem Mann im Kleinen werde ich im November herzlich wenig zu sehen bekommen.

Ich nehme den Nanowrimo ernst. Wer mich kennt, findet, ich nehme ihn zu ernst. Selbst einige Leute, die schon mal oder jedes Jahr den Nanowrimo geschrieben haben, finden das – ich ordne einen Monat lang dem Schreiben alles unter. Schränke meine sozialen Kontakte ein, reduziere alle Aktivitäten, die nicht Schreiben sind, und verbringe im Schnitt acht Stunden am Tag nur mit meinen Büchern – nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit intensivem Plotten, mit Lesen des bisher geschriebenen, und mit der Zeit nachts vor dem Einschlafen, die bei mir schon mal zwei Stunden dauern kann, während derer ich in meinen Geschichten spazieren gehe und versuche, das zu Schreibende für den nächsten Tag auf die Reihe zu bekommen. Und dazu kommt natürlich auch noch die Forenadministration, die Statistik, die Betreuung und Seelsorge für Dutzende von Autor:innen, die alle in der gleichen Situation sind …

Es ist gut, dass der Nanowrimo nur einen Monat dauert, denn in der letzten Woche gehe ich üblicherweise völlig auf dem Zahnfleisch. Dabei tue ich nichts anderes, als ein normaler Vollzeitarbeiter das ganze Jahr über tut: Ich verbringe den ganzen Tag mit meiner Arbeit. Aber ich tue das sieben Tage die Woche, ich erlaube mir keinen freien Tag, sondern arbeite durch, und ja, das geht an die Substanz, selbst einem gesunden Menschen, und ich bin, leider, kein gesunder Mensch. Trotzdem lasse ich mir den Nano nicht nehmen, auf meine Weise, mit vollem Engagement. Und im achtzehnten Jahr habe ich meine Tricks und Kniffe, um selbst in diese Ausnahmezeit so etwas wie Routine zu bringen.

Das geht mit dem richtigen Arbeitsort los. Meinen Nanowrimo schreibe ich nämlich am liebsten im Bett, mit dem Laptop auf dem Schoß, eingekuschelt in meiner dicken warmen Winterdecke. Heute habe ich die Betten frisch bezogen und dafür auch das Winterbettzeug wieder ausgepackt. Ja, natürlich habe ich ein wirklich schönes Arbeitszimmer, einen großen Schreibtisch, einen ergonomischen Bürostuhl – aber was hilft das, wenn mir die besten Ideen im Bett kommen? Im Nano verlasse ich es den größten Teil des Tages über nicht. Ich habe ein ergonomisches Keilkissen für meinen Rücken, eine Matratze, die darauf ausgelegt ist, dass ich nicht nur drauf liege, sondern genauso viel drauf sitze, ich habe meine Musik auf den Ohren und mein liebstes Parfum in der Nase und kann mich ganz in meine Geschichte fallenlassen. So schreibe ich am Besten.

Wenn es drauf ankommt, bringe ich mein tägliches Schreibpensum in drei Stunden zu Papier. Drei Stunden, das ist das Minimum, das ich brauche, um zwei Nanos zu schreiben. Und jeder Nano hat Tage, da muss ich es wirklich in der Zeit schaffen. Das ist etwas, das habe ich über die Jahre gelernt: Hinsetzen und die Arbeit konsequent durchziehen, und das ermöglicht mir, auch im Nanowrimo an ein paar Tagen am sozialen Leben teilzunehmen. Es ist notwendig. Gerade weil ich sieben Tage die Woche durcharbeite, brauche ich ab und an einen Gegenpol, um nicht völlig am Rad zu drehen.

Das habe ich auf die harte Tour lernen müssen – früher habe ich nämlich versucht, mich im November vor wirklich allem zu drücken, was nicht Schreiben war. Den Gesangsunterricht ausfallen lassen. Die Rollenspielrunde pausiert. Selbst vor der Geburtstagsfeier meines Vaters, der nun einmal im November geboren ist, habe ich mich gefürchtet, aus Angst, mein Tagespensum nicht zu schaffen und ins Hintertreffen zu geraten. Denn das Hintertreffen, das erschien mir wie das Todesurteil: Ein einziger Tag in den roten Zahlen schien zu bedeuten, dass ich das niemals, niemals! wieder würde aufholen können und der Nanowrimo verloren wäre.

Heute sehe ich das deutlich lockerer. Ja, ich versuche, jeden Tag mein Pensum zu schreiben. Aber wenn es mal an einem Tag weniger wird, ist das auch kein Weltuntergang. Dafür freue ich mich, am Samstag meine Familie zu treffen, die ich seit Monaten nicht mehr gesehen habe, und das ist mir auch einen Tag meines Nanowrimos wert. Oder die ebenfalls in den November verschobene Geburtstagsfeier meiner besten Freundin: Die hat einen runden Geburtstag, da erlaube ich ihr ausnahmsweise auch mal, im November zu feiern, und gehe mit spaß dahin. Und den Gesangsunterricht, den Malkurs, die wöchentliche Rollenspielrunde – in diesem Jahr möchte ich all das mitnehmen, und wenn zehnmal Nano ist.

Ich will meinen Nanowrimo schreibe mit aller Hingabe, ohne dafür mein ganzes Leben aufgeben zu müssen – auch weil ich es leid bin, dass mir alle anderen damit in den Ohren liegen, dass ich es mit dem Nano übertreibe. Ich fürchte, sie könnten recht haben damit. Ich verbringe viel Zeit mit heulen un fluchen, dass ich keinen Plot habe, ich schlafe zu lang und esse zu viel Süßes, was ich mir den Rest des Jahres über verkneife, ich bewege mich zu wenig und sehe zu wenig von der Sonne – aber all das ist, weil ich es liebe. Der Nanowrimo ist und bleibt einfach für mich die beste Zeit des Jahres, wo ich wieder verstehe, wie sehr ich meine Arbeit liebe, und wo meine Arbeit mir das Gefühl gibt, dass sie mich zurück liebt.

Die besten meiner Texte sind im Nano entstanden. Mitnichten ist es so, dass man da Quantität über Qualität stellt – gerade das intensive Eintauchen in die Geschichte, das stringente Durchschreiben, da weitermachen, wo man gerade erst aufgehört hat, wirkt sich zumindest bei mir wirklich positiv auf die Geschichten aus. So ist zum Beispiel der allergrößte Teil von »Unten« im Nanowrimo entstanden, und als ich das Buch dann Anfang letzten Jahres überarbeitet habe, war vergleichsweise wenig dran zu tun, es war nicht schwafeliger als andere Texte, sondern in Gegenteil alles sehr dicht, sehr atmosphärisch, wirklich gut zu lesen. Im Nanowrimo, wenn es gut läuft, kann ich das allermeiste aus mir herausholen, aus meinen Ideen und meinen Texten.

Ich gehe den Nano an wie ein Leistungssportler. Übertreiben Marathonläufer:innen? Klar tun die das, sie gehen an ihr Äußerstes, und ich als Außenstehender kann nur schwer nachvollziehen, wie jemand Spaß daran haben kann, so eine weite Strecke an einem Stück zu laufen, wenn ich noch nicht mal gerne weiter als bis zum Regionalbahnhof laufe. Aber wer einen Marathon läuft, weiß hinterher, was er oder sie getan hat, und hat etwas geschafft, worauf man stolz sein kann. So geht mir das mit dem Nano – nur, dass ich am Ende des Monats nicht nur eine schicke Schleife habe und ein Foto von mir beim Zieleinlauf, sondern außerdem die ersten 200 Seiten von einem neuen Buch, mit dem ich im kommenden Jahr noch ganz viel Spaß haben kann (oder, seltener, 200 Seiten aus dem Mittelteil eines Buches, das nun endlich fertig werden darf).

Etwas, das bleibt, etwas, mit dem ich noch lange Spaß haben kann, wenn der November lang vorbei ist – sei es, weil ich noch immer daran arbeite, sei es, dass ich es einfach mit Genuss lese. Was ich im Nano schaffe, das kann mir niemand mehr wegnehmen. Und das gilt selbst für die Jahre, in denen ich meinen Nano in den Teich gesetzt habe. Aus dem verlorenen Nano 2015 habe ich »Die Spiegel von Kettlewood Hall« mitgenommen, was im Jahr drauf dann fertiggeworden und 2018 bei Knaur veröffentlicht worden ist. Das im Nano 2008 gescheiterte »Geisterlied« habe ich im Nano 2011 und Camp Nanowrimo 2014 dann fertiggeschrieben. Man kann sein Nano-Ziel verfehlen, aber man kann nicht verlieren.

Man gewinnt immer eine Geschichte, und manchmal auch noch Erfahrungen. Man lernt etwas über sich selbst, über die eigenen Grenzen, die vielleicht doch mal enger gesteckt waren, als man gedacht hat. Im Zweifelsfall geht das Leben vor. Es kann einem immer etwas dazwischen grätschen, das dann wichtiger ist als die Frage, ob man 50.000 Wörter schafft. Ein gescheiterter Nano ist nicht das Ende der Welt. Und doch gehe ich in jeden neuen Nanowrimo mit dem erklärten Ziel, meine 50.000 Wörter zu schreiben, und beiße mich verbissen durch, gehe bis an mein Äußerstes, weil es mir eben wirklich die Welt bedeutet. Einen Monat im Jahr lebe ich so, wie ich es eigentlich gern das ganze Jahr über würde und, aus Vernunftsgründen, nicht tue. Einen Monat im Jahr erlaube ich mir, wild und verrückt zu sein. In zwei Stunden geht es los. Und ich habe keine Worte dafür, wie sehr ich mich darauf freue. Dafür habe ich zwei tolle erste Sätze geplant. Und ich freue mich schon wie Bolle darauf, sie endlich zu Papier zu bringen.

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