Der Romanfriedhof: »Die Welt in der Wühlkiste«

Der Todeskandidat, den ich euch heute vorstellen möchte, ist ein besonderer Fall unter meinen Schrankleichen. Nicht nur ist der Roman mausetot, er wurde ausgeschlachtet. Und während ich bei anderen toten Romanen immer nochmal daran denke, sie vielleicht wiederzubeleben, kann ich mir das hier nicht erlauben – jeder Versuch, Die Welt in der Wühlkiste mit neuem Leben zu füllen, würde bedeuten, ein anderes Projekt, das ich sehr liebe, zum Tode zu verdammen. Es ist fast ironisch, dass ein Roman, der daran scheitern sollte, dass ihm Herz und Seele fehlten, am Ende selbst zu Herz und Seele meiner Fälscher-Trilogie werden sollte. Und dabei war ich auf das Konzept so stolz! Ein Roman, der auf der Metaebene arbeitet, der die vierte Wand durchbricht, eine brillante Mediensatire, die das Fantasy-Genre und das Buchwesen an sich aufs Korn nimmt … Manchmal bin ich einfach zu genial für mein eigenes Wohlergehen.

Fantasyromane, in denen unbescholtene Normalbürger in phantastische Welten versetzt werden, sind typische Genrevertreter der achtziger und neunziger Jahre und haben inzwischen fast schon Seltenheitswert, aber zur Blütezeit meines Fantasylesens machten sie wirklich einen großen Anteil aus. Ich erinnere mich an weltenreisende Rollenspieler, Polizisten und Mechanikerinnen, und in einmem besonders origellen Vertreter muss ein Autor in seine eigene Welt reisen, um sie vor dem Untergang zu bewahren. Ich arbeitete damals – ca. 2005 – als Buchhändlerin, und so lag es nahe, eine Buchhändlerin in einen Roman zu versetzen. Zu allem Überfluss sollte es eine Buchhändlerin sein, die selbst mit Fantasy nicht viel anfangen kann. In die fremde Welt Leraval gerät sie durch eine Autorin, die erst, als sie ihren Roman in der Wühlkiste findet, erfährt, dass der Verlag nicht nur ihr Buch vergriffen gemeldet hat, sondern auch noch Band zwei und drei der Trilogie gecancelt. Warum sie sich dann nicht selbst auf den Weg in ihr Buch macht, um dort den Dämon zu stoppen? Ich habe eine ältliche Dame aus ihr gemacht. Mit Strohhut und Blümchenkleid. Die Buchhändlerin war einfach viel dynamischer. Und, leider, mir selbst durch und durch unsympathisch.

Und daran ist das Buch dann auch einen sehr schnellen Tod gestorben. Nicht mehr als elf Normseiten habe ich durchgehalten, bis mir Karina so gründlich zu den Ohren rauskam, dass das Buch erst in den »Ruht«-Ordner wanderte und dann nach »Gestorben«. Ein klassischer Fehlstart – der in eine Zeit fiel, in der ich einfach viel, viel weniger geschrieben habe als zu anderen Zeiten. Die Spinnwebstadt, an der ich sieben Jahre geschrieben hatte, war angeschlossen, mit den Chroniken der Elomaran kam ich nicht voran, und den Nanowrimo und mit ihm das wirklich produktive Schreiben hatte ich noch nicht entdeckt. Es war eine Zeit, in der sich selbst elf Seiten noch wie eine richtige Leistung anfühlten – und für die ich entsprechend auch bestimmt zwei Wochen gebraucht habe. Arbeit, die sich nicht gelohnt hat: Bis heute mag ich kaum eine Zeile von dem, was ich zur Welt in der Wühlkiste zu Papier gebracht hatte.

Dabei waren die Ideen großartig. Der Leser sollte nicht mehr und nicht weniger, als hinter die Kulissen eines Fantasyromans blicken, wo in Szenen, bei denen die Autorin in Sachen Weltenbau geschludert hatte, grobgezimmerte Bäume vor leerem Hintergrund agierten oder eine Figur, die nachträglich aus dem Roman hinausgeschrieben worden war, im manchen Szenen noch als Geist anwesend war. Karina, beauftragt, das Buch aus der Wühlkiste und die Trilogie vor der Einstellung zu retten, sitzt in einer fremden Welt fest, in der sie sich erst dann ihrer Umwelt mitteilen kann, als sie lernt, sich mit den Figuren zu identifizieren und damit quasi Besitz von ihnen zu nehmen – wobei sie sich gegen Kämpfer und Magierin und für den scheinbar sanftmütigen Diplomaten entscheidet, nur um dann festzustellen, dass sie aus den Augen eines Monsters blickt.

Der dramatische Showdown, diesmal wieder in unserer Welt, sollte diese Vorzeichen umkehren: Hier sollten die Fantasyhelden die Körper von Karina und ihren Buchhandelskolleginnen nutzen, um dem Dämon, der nicht nur aus der Schriftrolle, sondern dem ganzen Buch entkommen war, in Gestalt des Verlagskaufmanns Gunnar Fischer, der von ihm besessen ist, das Handwerk zu legen – was ein böser Seitenhieb auf einen ehemaligen Kollegen aus meiner Verlagszeit sein sollte (sein Name war weder Gunnar noch Fischer), der mir, als wir uns nach meiner Kündigung vor Gericht wiedersahen, übelst in den Rücken gefallen ist und an dem ich mich wenigstens literarisch rächen wollte. So viele Ideen, so originell, ich hatte sogar eruiert, dass die vermeintlich abgedroschene Fantasy-Hintergrundgeschichte noch nicht existierte – aber was hilft es, wenn man seine Protagonistin und einzige Perspektivträgerin nicht ausstehen kann?

Es sollten fünf Jahre vergehen, ehe ich mich wieder dieser Geschichte zuwandte. Ich wollte gerne einmal wieder ganz klassische Fantasy schreiben – und was gab es Klassischeres als eine Geschichte, die ich ausgedacht hatte, um archetypische Fantasy zu haben, nur um das Ganze dann zu nehmen, dem Leser eine lange Nase zu drehen und alle seine Erwartungen über den Haufen zu werfen? Ich konnte die Figuren eins zu eins übernehmen. Nicht die unausstehliche Karina, natürlich, und auch nicht die großgeblümte Lioba – aber alle anderen waren da. Lorcan, Enid, Tymur sprangen mir direkt aus dem Fragment in den neuen Roman. Von Kevron, der in der ersten Fassung ein Dieb war, habe ich zumindest den Namen übernommen. Auch wenn der Dämon nicht mehr Gunnar heißt, wird er das inoffiziell für mich immer bleiben. Und sollte ich mich entscheiden, jetzt, wo ich einen Verlagsvertrag für das Ergebnis unterschrieben habe, das wie in der Vorlage immer noch Das gefälschte Siegel heißt, das Buch doch noch unter Pseudonym herauszugeben, könnte ich mich Lioba Demming nennen – aber dann hätte ich zu große Angst, mich holt die Realität ein und die Reihe landet tatsächlich im Ramsch, bevor Teil Zwei und Drei erscheinen können. Man ist ja doch irgendwie abergläubisch als Autorin …

Selbst die Idee, hinter die Literaturkulissen zu schauen und die vierte Wand nicht nur zu durchbrechen, sondern mit einer Drehtüt zu versehen, habe ich nicht endgültig aufgegeben. Viele Motive aus der Welt in der Wühlkiste haben es in meine Literatursatire/Chicklit/Fantasyromanze Musenruf geschafft. Ob das jemals fertig wird, weiß ich zwar nicht – aber zumindest kann ich sagen, dass bei mir keine Idee verlorengeht.

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