Geisterlied

Mein erster Roman für dieses Jahr ist eine Altlast. Schon im Nanowrimo 2008 wollte ich Geisterlied schreiben, aber schon nach weniger als einer Woche habe ich das Handtuch geworfen – die Belastung einer Vollzeitstelle war für mich zuviel, um nebenbei auch noch einen Roman zu schreiben, und, wie sich später herausstellen sollte, auch zuviel für alles andere. Dass ich den Nanowrimo in jedem Jahr geschmissen habe, bereue ich heute mehr als das allermeiste andere in meinem Leben, und dieses Jahr tue ich also nun Buße dafür. Nachdem ich drei Jahre lang immer wieder vorhatte, das Buch eben irgendwann anders zu schreiben und doch nie wirklich etwas draus geworden ist, mache ich es eben in diesem Nano als eines von zwei Projekten. Und auf die Geschichte bin ich immer noch stolz:

In erster Instanz entstammt die Idee einem Traum. Wer das Lied eines Geistes singt, öffnet ihm damit Tür, Tor und Körper und muss damit rechnen, dass der Geist völlig Besitz von ihm ergreift. Und die Geister singen unentwegt, sanft bohrende ohrwurmartige Melodien, die man einfach mitsingen muss. Während Geister für normale Menschen unsichtbar und – was für ein Glück! – unhörbar sind, werden sie, sobald sie von einem Körper Besitz ergriffen haben, zur Gefahr für alle, und ganze Dörfer sind so schon an die Geisterwelt gefallen. Kein Wunder also, dass jene, welche die Gabe haben, Geister zu sehen und zu hören, sich keiner großen Beliebtheit erfreuen. Die kleine Anata hat Glück: Sie darf in ihrem Dorf bleiben, anders als ihre ebenfalls mit der Gabe gesegneten Mutter, die sich so sehr fürchtete, ihre Familie zu gefährden, dass sie nach Anatas Geburt Mann und Töchter verließ und niemals wieder gesehen wurde. Die Geistersängerin Idra, die auf der anderen Seite des großen Sees lebt, willigt ein, Anata in die Lehre zu nehmen, wenn die dafür alt genug ist.

Das andere Mädchen ist schlimmer dran. Rizim taucht eines Tages in Anatas Dorf auf, barfuß, mit wirrem Haar, das Kleid zerrissen, grün und blau geschlagen, und summt leise vor sich hin. Die Dorfleute zählen schnell eins und eins zusammen – wieder ein armes Kind an einen Geist gefallen, traurig, sowas, aber wir können nicht zulassen, daß es hier bleibt, sonst geht es uns bald allen genauso… Nein, natürlich töten wir kein kleines Mädchen! Wir sorgen nur dafür, daß es seines Weges zieht, soll die Wildnis den Rest erledigen… Doch das läßt Anata nicht zu. Vergeblich versucht sie ihren Erwachsenen zu erklären, daß dieses Mädchen kein Geist ist – sie wollen nicht auf ein Kind hören. Anata hält das andere Mädchen fest im Arm, damit niemand ihm mehr etwas antun kann, und stimmt selbst in den Gesang mit ein: Jetzt müßt ihr schon uns beide aus dem Dorf prügeln, und das wagt ihr nicht!

Taro, Anatas Vater, ist zwar nicht begeistert, noch eine zweite kleine Geisterseherin im Haus zu haben, aber wie Anata hält er es für schlimmer, ein armes Mädchen in die Wildnis zu jagen, vor allem, da sowohl Rizim als auch Anata betonen, dass kein Geist in ihr steckt. Aber erst als Devon, der Geisterjäger, die Mädchen begutachtet und zu dem gleichen Schluss kommt, geben die Dorfleute Ruhe. Devon, der Graue Jäger, ist taub – er war einst selbst Idras Schüler, doch er fiel an einen Geist. Es gelang ihm mit dem, was er gelernt hatte, sich selbst den Geist auszutreiben, doch um zu verhindern, dass sich so etwas jemals wieder ereignen sollte, durchstieß er sich die Trommelfelle, um die Lieder der Geister nicht mehr hören zu können – und auch nichts anderes. Seither umstreift er das Land um den See, immer auf der Suche nach Besessenen, ein unerbittlicher Jäger, den man nicht zum Gegner haben möchte.

Die Mädchen wachsen heran und werden unzertrennlich wie Schwestern, bis eines Tages das Unaussprechliche geschieht: Anata, die zehn Jahre lang stark war und jeder Verlockung widerstanden hat, verfängt sich im Lied eines Geistes und merkt zu spät, dass es nicht mehr ihr eigenes Lied ist, das sie da singt. In Panik flieht sie mit Rizim aus dem Dorf, vor den Menschen, vor Devon und vor dem Geist, der sich Anatas Körper holen will. Sie versuchen, auf die andere Seite des Sees zu kommen, damit Idra Anata helfen und den Geist bannen kann, doch auf dem Weg über den halb zugefrorenen See werden sie von dem Geist eingeholt. Doch so wie Anata sie damals vor dem Mob gerettet hat, ist es nun Rizim, die Anata hilft, doch nicht so, dass sie die Dinge damit besser macht:

Sie spricht plötzlich mit einer Stimme, die Anata noch nie gehört hat, und erklärt dem Geist, dass er Anata nicht haben kann, weil die schon längst Rizim gehört. Anatas Freundin ist selbst ein Geist. Womit immer Anata gerechnet hat – das ist es nicht. Sie fühlt sich verraten, all die Jahre über ist sie belogen worden, hat riskiert, aus dem Dorf gejagt zu werden, und alles nur, um einen Geist zu beschützen? Jetzt ist sie mit diesem Geschöpf allein, mitten im See in einem Schlittenboot, und kann nicht vor und nicht zurück. In ihrer Verzweiflung versucht Anata, den Geist aus Rizim zu vertreiben, auf die einzige Weise, die sie kennt: Wenn der Wirtskörper zu sterben droht, verlässt ihn der Geist. Anata drückt Rizims Kopf in das eiskalte Wasser, bis die sich nicht mehr rührt – dann erst kommt sie zur Besinnung.

Rizim ist nicht tot, immerhin; Anata hat es geschafft, sie gerade so eben nicht zu töten. Aber das Mädchen, als das sie schließlich erwacht, ist eine Fremde für Anata, und sie muss erkennen, dass sie ihre einzige Freundin, und wenn die zehnmal ein Geist war, verloren hat. Anata muss eine Entscheidung treffen: Will sie ihre Freundin zurückgewinnen, muss sie entweder die das andere Mädchen, das sich an nichts erinnern kann, oder sich selbst dem Geist opfern, wenn sie es überhaupt schafft, ihn jemals wiederzufinden – und irgendwo, am anderen Ufer, wartet nicht nur die Geistersängerin Idra, sondern auch der fanatische Devon…

Ich bin etwas bang, oder sogar sehr, dass ich auch in diesem Jahr wieder an der Geschichte scheitern werde. Ich liebe sie über alles, halte sie für eine meiner schönsten Ideen überhaupt, aber was bringt das, wenn ich an der Überarbeitung scheitere? Ein Kapitel bringe ich von damals mit, werde es aber generalüberholen, weil sich inhaltlich schon ein paar Sachen geändert haben und sich auch mein Stil in den drei Jahren verändert hat. Wie das Buch ausgehen soll, weiß ich noch immer nicht – aber das ist auch ganz gut so. Ich hasse nichts mehr, als wenn ich während der Schreibarbeit immer noch etwas zu denken habe. Und wer weiß, vielleicht wird das mein Beitrag für den Holbeinpreis 2012?

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