Jetzt darf ich also eine Rede halten. Ich kann Sie beruhigen – ich bin eine brillante Redenschreiberin. Ich habe nämlich schon einmal eine Rede geschrieben, cirka 1990, im Deutschunterricht, als wir Rhetorik als Thema durchgenommen haben. Fragen Sie mich nicht, um was es in dieser Rede ging, aber ich habe eine Eins dafür bekommen, und dann muss ich wohl ein Talent zum Redenschreiben mitbringen. Das hier ist also meine allerzweite Rede, und die erste, auf die es wirklich ankommt, und bevor ich jetzt gleich alles vergesse, was ich eigentlich sagen wollte, lassen Sie mich das Wichtigste zuerst sagen, und das ist danke.
Danke, dass ich heute hier stehen darf, dass ich diesen Preis in Empfang nehmen darf, der mir wirklich die Welt bedeutet. Ich bin ein Mensch voller Ängste und Unsicherheiten, und es jetzt einmal schriftlich zu bekommen, dass ich es richtig gemacht habe, dass ich Menschen berührt habe und zum Denken gebracht, das ist genau das, was ich immer schon einmal hören wollte, und mein Redemanuskript enthält hier den Hinweis, dass ich, wenn ich vor Rührung weinen sollte, mir die Nase nicht allzu auffällig schnaufen soll, ich will ja einen guten Eindruck bei Ihnen hinterlassen.
Aber ich habe jetzt ja nicht irgendeinen Preis gewonnen, sondern den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar, und ich möchte erklären, warum mir das so wichtig ist. Ich bin Phantastikautor. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Oeuvre, seit ich schreiben kann – ich schreibe für Erwachsene, ich schreibe für Kinder, Fantasy, Mystery, Dystopisches, alles, was einen phantastischen Anspruch hat, und hier, mit diesem Preis, habe ich Menschen, die das verstehen, die das ernst nehmen.
Meine Oma konnte das nicht verstehen. Sie fand es gut, dass ich schreibe, dass ich die Familientradition aufrechthalte – ich komme aus einer langen Linie mehr oder weniger verkrachter Autoren – aber mussten es ausgerechnet solche Sachen sein? »Erfundene Geschichten« nannte sie das, und das war kein Kompliment. »Warum schreibst du immer solche erfundenen Geschichten?« Und an der Stelle habe ich mir den Mund fusselig geredet. Versucht, ihr zu erklären, dass die Romane, die sie las – denn meine Oma war bis ins hohe Alter eine leidenschaftliche Leserin – ebenfalls erfundene Geschichten waren, dass auch ihre historischen Stoffe mitnichten akurate Dokumentationen waren …
Aber ich wollte ja nicht schlecht machen, was meine Oma las. Ich wollte eine Lanze für die Phantastik brechen. Denn die ist mitnichten einfach nur etwas Ausgedachtes. Sie ist ein Mittel, er Wirklichkeit den Spiegel vorzuhalten, gerade soweit abstrahiert, dass man das Auge auf das Wesentliche richten kann. Sie ist die Bühne, auf der ich meine Figuren platziere, denn Phantastik hin, Realismus her, unterm Strich schreibe ich Bücher über Menschen, über ihre Hoffnungen und Ängste und Sehnsüchte, und das ist etwas universelles, das sich quer durch alle Genres zieht und doch für meine Oma nicht ausgereicht hat.
Aber »Unten«, ausgerechnet, ist nicht einfach nur ein phantastischer Roman. Es ist das Buch, das von der Wirklichkeit eingeholt worden ist – etwas, das ich nur den wenigsten Romanen, und erst recht nicht den dystopischen, wünschen würde. Als ich das Buch geplant und den allergrößten Teil davon geschrieben habe, war es noch 2019, und es erschien mir wie eine spannende Idee, eine Gesellschaft zu entwerfen, die in einem einzigen großen Haus festsitzt und nicht mehr vor die Tür kann – dann kam Covid, die Welt ging in den Lockdown, und was ich mir ausgedacht hatte, war plötzlich für Kinder und Erwachsene Realität. Das war der Moment, wo ich verstanden habe, dass »Unten« unbedingt fertigwerden musste, dass dieses Buch, das so zeitlos daherkam, plötzlich zu einem so klar benannten Kind seiner Zeit geworden war, dass es für mich immer untrennbar mit dem Lockdown verbunden sein würde – und doch sollte es noch bis Ende 2021, lange nach Ende des Lockdowns, dauern, bis auch die letzten Seiten von »Unten« geschrieben waren.
Meine Oma hat den Lockdown nicht mehr erlebt und auch nicht die Veröffentlichung meiner letzten Bücher – aber sie war bis zum Schluss doch sehr interessiert an mir und meinem schriftstellerischen Werdegang und hat mir Glück dafür gewünscht. Trotz meinem Hang zu »erfundenen Geschichten« hat sie mich ernst genommen, und verstanden, wie viel mir das bedeutet. Das bin ich. Ich erfinde Geschichten. Und manchmal werden sie wahr.
Wie auch dieser langgehegte Traum von mir jetzt wahr geworden ist. Und dafür danke ich Ihnen mit allem, was ich habe.